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Die Wandlung der geistigen Grundlagen in der Seelenheilkunde

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Der Nervenarzt V. E. Frankl knüpft mit seiner Theorie der Existenzanalyse an die beiden großen psychotherapeutischen Grundrichtungen, die Psychoanalyse Freuds und die Individualpsychologie Adlers, an. Indem er die Frage nach der Tauglichkeit der genannten Methoden vom Geistigen her aufrollt, gelangt er zunächst dazu, den ihnen wesensmäßig zukommenden Rahmen abzugrenzen, um dann aus der Wesenserkenntnis von Psychoanalyse und Individualpsychologie zu einer eigenen, neuen und umfassenderen Konzeption fortzuschreiten.

Zu Beginn des vorigen Jahrhunderts noch stand die Medizin bei der Beurteilung der Entstehung geistiger und seelischer Erkrankungen genau so vor einem Rätsel wie bei den organischen Leiden. Weit von der Annahme entfernt, daß etwa die moderne Wissenschaft alle, ja auch nur die Mehrzahl psychischer Erkrankungen in ihrem Wesen erfaßt hätte, kann man andererseits mit Fug behaupten, daß in den letzten Jahrzehnten die Erforschung des Seelenlebens beträchtlich erweitert wurde. Freilich wurde vielleicht gerade dadurch merkbar, wie sehr wir mit unseren Kenntnissen noch immer an der Oberfläche stecken und berechtigterweise daran zweifeln mögen, ob wir jemals die menschliche Seele mit dem Verstände ähnlich werden austasten können wie etwa den Inhalt unserer Rocktaschen mit den Fingern.

Siegmund Freud hat in bahnbrechender Weise die unbewußten Vorgänge des Seelenlebens in ihrem Zusammenhang mit bestimmten psychopathischen Zuständen untersucht und dabei bedeutende Rückschlüsse auf deren Entstehung vor allem auf dem Gebiet der Neurosen ziehen können. Unter Neurose verstehen wir einen krankhaften Zustand, dem keine erkennnbare pathologische Organ- oder Geistesveränderung zugrunde liegt. Hierher gehören gewisse Nervenzuckungen, Stottern, Störungen seitens des Verdauungs- und Kreislaufapparats, Zwangsvorstellungen und -Impulse, Hysterie, aber auch viele unscheinbarere, beinahe alltägliche Angelegenheiten, wie Vergeßlichkeit, Versprechen usw. In zahlreichen derartigen Fällen konnte Freud den Zusammenhang zwischen Krankheitsbild und tieferen seelischen Vorgängen evident machen, wobei häufig dem Sexualtrieb eine ausschlaggebende Rolle zukam, was niemand angesichts der besonderen Bedeutung des Sexus im psycho-physischen Zusammenspiel in übermäßiges Erstaunen versetzen mag.

Nun haben aber Freud und seine Schüler die neugewonnenen Erkenntnisse nicht nur zum Aufbau einer therapeutischen Methode, sondern darüber hinaus zur Grundlage einer eigenen Auffassung vom Menschen, ja des Lebens überhaupt, zu einer Weltanschauung sexualmaterialistischer Prägung verwertet, in welcher der Sexus als motor primus des seelischen Krankheitsgeschiehens wie auch des gesunden Seelenlebens fungiert. Damit wurde eine an sich wertvolle wissenschaftliche Teilerkenntnis völlig unbegründet zu einem Phantasma ohne realen Erkenntniswert aufgeblasen. Diese Feststellung schmälert keineswegs das Forschungsverdienst Freuds, das, auf den Kern seines wissenschaftlichen Wahrheitsgehaltes reduziert, immer noch bedeutend genug ist, ihren Entdecker in die Reihe der Großen der Wissenschaft zu versetzen. Sie spiegelt aber die Beobachtung wider, daß der Forsdiergeist in diesem wie in zahlreichen anderen Fällen der Geistesgeschichte übers Ziel schoß und im Überschwang der Gefühle ein gefundenes Korn Wahrheit zu an sich unhaltbaren Verallgemeinerungen ausweitete.

Aber gerade hier setzt Frankl mit seiner Kritik und Korrektur ein — in dieser Art ebenfalls ein in der Geistesgeschichte nicht ungewohnter Vorgang, durch den die Auswertung eines erkannten Irrtums zum Anlaß eines neuen Fortschritts wird. Die Überwertung des Sexuellen wird dort illusorisch, wo der Trieb anlagemäßig ausgeprägt ist oder fehlt, wo er gegenüber anderen psychischen Neigungen virtuell zurücktritt oder wo trotz entsprechender Triebbefriedigung seelisches Unbehagen auf Grund eines inneren erbmäßigen oder auch eines äußeren Schicksals besteht. In diesen Fällen können auch Neurosen und Geisteskrankheiten entstehen, diesfalls jedoch ohne sexuelle Ursache. Die Ursache ist dann eben im jeweiligen Schicksal gelegen, beziehungsweise in der konkreten Art, wie dieser oder jener bestimmte Mensch seinem Schicksal entgegentritt, wie er es auffängt und überwindet. In diesem Sinn ist auch der unerfüllbare Sexualwunsch nur ein Sonderfall einer bestimmten Schicksalssituation, das heißt, er wird m einer vom Schicksal gesetzten Aufgabe. Las Problem besteht, wie Frankl klar erfaßt, darin, den Menschen davor zu bewahren, daß er, vor einem wenn auch noch so schweren Schicksal die Waffen streckend, in die Krankheit flüchtet, indem man ihn durch ein aufklärendes und ermunterndes Wort dazu bringt, sich mit seinem Schicksal auf Grund des im Gewissen eingeborenen Verantwortungsgefühls positiv auseinanderzusetzen. Die praktische Aufgabe dieses seelenärztlichen Bemühens (Frankl nennt es Logotherapie, das heißt Heilwirken durch das Wort) besteht darin, dem Menschen den Sinn seines Schicksals, das nur zu oft Leid, Krankheit, Verlust, Trennung beinhaltet, in der Weise nahezubringen, daß er in jeder Prüfung eine ihm speziell gebotene Möglichkeit der Verwirklichung sittlicher Werte erkennt. Während die Psychoanalyse im Prinzip den Konflikt Mensch - Schicksal durch ein Sichabfinden des Menschen mit der stärkeren äußeren Realität beenden will, proponiert die Existenzanalyse eine Konfliktbereinigung durch die Überwindung des Schicksals aus dem Geist im Sinne einer inneren Erfüllung der eigenen Persönlichkeit.

Kaum je dürfte eine Epoche für eine derartige Deutung seelischen Geschehens aufgeschlossener sein als die gegenwärtige, die vom Schicksal nun seit Jahrzehnten in immer furchtbareren Heimsuchungen zur Beantwortung der Frage nach dem Sinn des Lebens aufgerufen wird. Nichts erscheint heute selbstverständlicher, als daß Sinnblindheit für das Schicksal den Menschen zum psychischen Versagen, zur gemüts- und gefühlsmäßigen Absperrung von der Welt, zur Inversion und Verzweiflung sowie all den anderen pathogenetischen Möglichkeiten seelischen Ausweichens führen muß. Frankl bemüht sich nun, dem Menschen auf rationalem Wege den Sinn des Daseins und seiner leider sehr rauhen Formen positiv verständlich zu machen. Was er in dieser Beziehung über Leben, Lieben und Leiden vorbringt, gehört zum Besten und Sinnvollsten, was von wissenschaftlicher Seite über die Daseinswertung in den letzten Jahren gesagt wurde, und darf jedem, der irgendwie mit Menschenführung befaßt ist, zum Studium warm empfohlen werden. Wenn man sich je eine Anleitung zur Menschenführung auf rationalistischer Basis vorstellen wollte, dann müßte sie ungefähr so aussehen.

Aber — und damit stößt man auf das Kernproblem in der Beurteilung der Existenzanalyse selber — es fragt sich, wie weit man mit Vernunftgründen allein bei der Behandlung krankhafter Seelenzustände kommt. Frankl verankert sein System im Verantwortlichsein. Verantwortlich wem? Diese Frage muß auch der Kritiker stellen. Dem Geistigen, dem Schicksal, dem Gewissen? Hier baut Frankl auf einer Grundlage auf, die er auf rationalistischer Weise weniger leicht evident machen kann als das, was er daraus logisch ableitet. Und weiter: Verantwortlich warum? Um des kleineren Übels wegen, aus Rücksicht auf die Gesellschaft oder um das vom Schicksal auferlegte Gewicht durch die Vorstellung einer rational aufgebauten Wertordnung um ein paar Unzen zu erleichtern? Man kann bei allem Optimismus, den der Arzt ja immer haben muß, vom Seelisch-Kranken, der vielleicht wegen angeborener ethischer Anlagedefekte in sein Leiden hineinschlitterte, oder von einem Menschen, der, vom Schicksal zum Krüppel, Siechen oder Unheilbaren geschlagen, in Schwermut verfiel, im allgemeinen kaum erwarten, daß er den Heroismus aufbringt, ein solches Schicksal innerlich zu bejahen, nur um der Vorstellung eines Reiches objektiver Werte wegen, mit dem er sich außer durch den kalten Verstand durch keinerlei persönliche Beziehungen verbunden fühlt. Die Verwirklichung sittlicher Werte in diesem Umfang ist empirisch und theoretisch nur vorstellbar unter der Voraussetzung eines direkten persönlichen Vertrauensverhältnisses, unter dem sich Anruf und Verantwortung vollziehen. Der Verstand allein versagt, wenn nicht auch das Herz, die Liebe dabei ist, die allein erst die letzte Gewißheit verleiht, daß eine Prüfung nicht ihrer selbst willen da ist, sondern nur um den Geprüften um so innniger mit dem persönlichen Urgrund des Seins zu verbinden. Frankl selber meint in seiner Kritik der Psychoanalyse und Individualpsychologie: „Wir müssen uns fragen, ob nicht der Vorstoß in eine weitere Dimension geboten erscheint, wofern wir zu einem angemessenen Bild von der totalen leiblidh-seeliisch-geistigen Wirklichkeit ,Mensch' gelangen wollen.“ An einer anderen Stelle sagt er: „Es gibt Menschen, die einen Schritt weiter gehen, die das Leben gleichsam in einer weiteren Dimension erleben. Sie erleben jene Instanz hinzu, welche die Aufgabe stellt.“ Schließlich bekennt er an einer dritten Stelle, daß der religiöse Glaube von eminenter psycho-thera-peutiseber und psycho-hygienischerBedeutung sei, da es für ihn letzten Endes nichts Sinnloses gebe. Man wundert sich, daß Frankl angesichts dieser weitreidienden Einsicht mit seiner Theorie auf einer Stufe stehenbleibt, die dem Menschen nur als körperlich-geistigem, aber nicht auch. seelischem Wesen gerecht wird. Das ist doch offenbar der Fall, wenn er einer konkreten Antwort auf die Frage, wem der Mensch verantwortlich sei, ausweicht und „neutral“ bleiben will. Denn in dem Maß, als der Verstand zum Postulat einer objektiven Weit 3er Werte gelangt, verlangt das Herz danach, diese Wertewelt in einer persönlichen Vereinigung mit ihrem Schöpfer zu erleben. In dieser Schau erst entfaltet sich der Sinn des Seins zu seiner ganzen erhabenen Größe. Und erst in dieser Erhabenheit vermag er dem Menschen Kraft und Klarheit zur Erfüllung seiner Aufgabe und Uberwindung psychischer Schwäche zu geben.

Indem die Existenzanalyse vor dieser letzten Konsequenz stehenbleibt, droht sie trotz ihres deutlichen Fortschrittes zum Geistigen hin, sich den Weg zum letzten Ziel selbst abzuschneiden. Sei es nun, daß sie diese Haltung der mangelnden letzten Einsicht oder, was noch bedauerlicher wäre, dem Umstand zuzuschreiben hätte, daß sie sich moralisch nicht bereditigt fühlte, einem Menschen durch Mitteilung einer als sittlidi höherstehend erkannten Weltanschauung zu helfen. Es ist zu hoffen, daß die Psychotherapie der Gegenwart auch diesen letzten Schritt noch wagt. Lenn der Verstand wird nur dann aus der Enge seelischer Beklemmung führen, wenn er getragen ist von der Kraft eines gläubigen Herzens, das den Mut zu höchster Uberwindung aus der demütigen Bitte schöpft: Sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund!

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