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Menschliches Bauen

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Das Bauen, das mit der Seßhaftwerdung der frühzeitlichen Gesellschaft stets zur zwangsläufig sichtbaren Ausdrucksform des Entwicklungsgrades der Bewältigung der Umweltaufgaben werden mußte, mag wohl zuerst nur auf das Einzelindividuum rückgewirkt haben; das kollektive Bauen aber — also im späteren Stadium der Städtebau — mußte um so eindeutiger auch das Kriterium jenes Grades der Erkenntnis der Gemeinschaft werden, das das bestmögliche Zusammenleben in der Gesellschaft, deren optimales Miteinanderleben bewertet.

Schon sehr früh wurde darum auch die unabweisbare Dipolität, die wechselhafte Verpflichtung erkannt, die auch im Bauen zwischen dem einzelnen und der Gesellschaft wirksam ist, und die die naturgesetzliche Spannung zwischen dem Wunsch des Einzelnen nach möglichst weitgehender persönlicher Unabhängigkeit und Freiheit auf der einen Seite und der unvermeidbaren Gemeinschaftsforderung nach Einordnung In ein größeres Ganzes, also zwischen Privatität und Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft, widerspiegelt.

Heute — mehr denn je in der baupsychologischen Entwicklungsgeschichte der Menschheit — wird wegen der wachsenden kollektiven Anforderungen, die an das Einzelindividuum im Zeitalter der Massengesellschaft gestellt werden, in ebenso wachsendem Maße verstärkt empfunden, wie entscheidend wichtig für die Mehrheit eine scharfe Zweiteilung des täglichen menschlichen Lebensablaufes in eine Periode des gemeinsamen Schaffens und in eine der individuellen Freizeit ist; niemals zuvor als heute, im Zeitalter des Fließbandes und der Technisierung, wurde eine so weitgehende arbeitstechnische Einordnung in kollektiv-technische Produktionsprozesse abverlangt, ja, alles in allem gesehen, ist heute die Arbeit in der hochdifferenzierten industriellen Gesellschaft in der überwiegenden Mehrheit auf Teams aufgebaut, die dem einzelnen kaum mehr eine eigenschöpferische Dispositionsfreiheit erlauben können.

Die Menschheit läuft dadurch dauernd Gefahr, daß auch ihre Freizeit, die Periode ihrer Besinnung auf sich selbst, ihrer Umschaltung, ihrer Entspannung, von dieser einseitigen Einordnung in kollektive Tätigkeiten — besonders gefördert durch die dichten Ballungen in den großen Siedlungsräumen — in eine ebenso kollektive, zwangsläufig grobschlächtige, klischeehafte, laute Freizeitgeselligkeit abgleitet; dies muß aber zu einer höchst einseitigen Lebensform des einzelnen führen, in der alles, was er tut — also auch das Wohnen —, in einer gleichförmigen Massenhaftigkeit versandet, die zuletzt unschöpferisch, psychologisch widernatürlich und monostrukturell lebensfeindlich sich auswirken muß. Das aber wieder kann nicht Sinn und Zweck des Kampfes um ein höheres Lebensbild sein, bei aller selbstverständlichen Wert schätzung, die dem Team, dem Kollektiv, der „Gemeinschaft’1 als absolut notwendiges polares Pendent im Verhältnis von Gesellschaft und Individuum zukommt.

Eine bewußt erlebte Freizeit zu sichern und zu fördern, in der das Individuelle, das höchst Persönliche, das Seelische des einzelnen, nicht zu kurz kommt, ist daher heute die große Forderung, die gestellt werden muß: In einer sozial richtig ausgewogenen, sorgsam differenzierten Wohnkultur wird daher gerade jenen Wohnformen, in denen der höchste Grad an Privatität, an Möglichkeiten des „Sich-aus-der- Gesellschaft-Zurückziehens", gegeben ist, ein überragendes, sozial-avantgardistisches Primat zukommen; denn je höher der Grad an Intimität, an Unabhängigkeit von der Gemeinschaft beim Wohnen ist, ohne diese zu schädigen, desto größer wird ihr allgemein kultureller Wirkungsgrad und desto heilender wird die so notwendige Stille in jedem wirken können, um die Regungen seiner Seele zu vernehmen, die nur leise, aber eindringlich wirksam ist.

Diese wohn- und lebenskulturell hochentwik- kelten Wohnformen dürfen aber nicht auf einige wenige beschränkt bleiben, sondern müssen — Zug um Zug — der gesamten menschlichen Gesellschaft zugänglich und erreichbar sein, wenn sie überhaupt in der Gemeinschaft tragend werden sollen. Der tiefere Sinn des sozialen Städtebaues und des sozialen Wohnungsbaues besteht gerade in der Durchsetzung dieser elementaren Grundbedingung, und es muß dabei stets zum obersten Ziele gehören, daß nicht nur die hygienisch-materiellen Wohnbedingungen, sondern vor allem die seelischen Lebensbedingungen der Umwelt das Wohnen qualitätsvoll und so naturnahe als nur möglich machen.

Die folgenden sechs Beispiele — Wiener Beispiele aus dem jüngeren Wohnbauschaffen der Gesellschaft dieser Stadt in den letzten zehn Jahren — wurden mit einem gewissen Bedacht ausgewählt und aufgezeigt; sie stellen, jedes Beispiel für sich, bestimmte Typen dar, die — gesehen sowohl von Seite der Bauherrn, die sie errichten ließen, als auch von den Architekten, die sie planten und formal gestalteten — Versuche einer Synthese sind zwischen den lebensnahen, naturverbundenen, familiengerechten Forderungen einerseits und den wirtschaftlich tragbaren, technisch und baukünistlerisch- formal zeitgemäßen Möglichkeiten anderseits,- die heute in Österreich bei der gegenwärtigen Höhe des Sozialproduktes und der allgemeinen technischen und wirtschaftlichen Entwicklung zwar kein Durchschnitt sind, aber realisierbar scheinen; man mag vielleicht mit einem gewissen Recht darauf verweisen, daß es sich bei diesen Anlagen, an denen die öffentliche, staatliche und kommune Hand, aber auch Genossenschaften und der individuelle persönliche Sparwille ihren gemessenen Anteil haben, kei neswegs um Werke des sozialen Wohnungsbaues landläufiger Prägung handelt und daß diese Baubeispiele schon in gewisser architektonisch-künstlerischer Art weit über dem durchschnittlichen derzeitigen Sozialstandard und fernab der durchschnittlichen baukulturellen Auffassung der Wiener liegen; diese Behauptung stimmt sogar in mancher Hinsicht; trotzdem wurde die Auswahl so und nicht anders, und mit Bedacht, getroffen; Wer um das Jahr 1900 den späteren George-Washington-Hof, den Karl- Marx-Hof, den Reumann-Hof oder die Freihof- Siedlung als Standard-Fernziel des „Arbeiterwohnbaues" der Jahrhundertwende hingestellt hätte, wäre der gleichen negativen Kritik aus- gesetzt gewesen: und doch sind diese Bauten und ihre Haltung Fakten — Standards — geworden, die sogar heute schon als von der sozialen Wohnkultur überholt gelten.

Im Zeitalter des wachsenden Sozialstandards, der Verringerung der Wochenarbeitszeit, des alarmierenden Hinaufschnellens des Konsums von Genußmitteln und der Narkotika aller Art und der Betäubung breitester und bester Bevölkerungsschichten durch eine massensuggestiv eingesetzte’und künstlich hochgetriebene Bedarfserregung und bei der raffinierten Hinlenkung der jüngeren Generation zu Klischees und göt- zenhaften Leitbildern, :st es Pflicht, die Bevölkerung auf beispielhafte — und durchaus erreichbare —, anstrebenswerte Fernziele einer höheren sozialen Wohnkultur hinzuweisen, um einen starken lebensstilformenden Wohnkulturbedarf zu wecken, der sonst in Massenhaftigkeit und Flachheit der Schablone ersticken müßte: Sechs Beispiele von sowohl städtebaulich, wohn- baulich, sozial, kulturell und technisch durchaus verschiedenen Wohntypen, die zum Teil schon heute, und sicher morgen, in wachsendem Maße wirtschaftlich allgemein tragbar und gesell- schaftsgere.cht sind beziehungsweise sein werden.

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