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Wozu Geschichtswissenschaft?

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Wozu treiben wir Geschichte? Von der Pflege dieser Wissenschaft wollen heutzutage weite Kreise nichts mehr wissen, die einen, weil sie von der Geschichte enttäuscht worden sind, da sie nicht den Verlauf genommen hat, den sie nach ihrer Erwartung und Auffassung hätte nehmen sollen, die andern, weil sie alles historische Wissen für alten nutzlosen Plunder halten, der nur dem Fortschritt im Wege steht und die Menschen in alten Vorstellungen befangen hält. Diese Zukunftsgläubigen wollen den Ballast der historischen Tradition von sich werfen, um unbeschwert von historischen Erinnerungen und Vorurteilen, den Marsch in eine neue, in politischer und sozialer Hinsicht bessere Welt antreten zu können. Es scheint ja auch bei oberflächlicher Betrachtung fast jegliches Band zwischen dem so radikal umgeformten Weltbild von heute und dem von gestern oder gar vorgestern abgerissen, so daß man es nicht für lohnend halten könnte, der Vergangenheit größere Beachtung zu schenken. Zahlreicher und eindringlicher denn je sind in der Gegenwart auch die Stimmen, die Hegel recht geben, der einmal erklärte: „Das Einzige, was die Geschichte lehrt, ist, daß man niemals aus der Geschichte gelernt hat"; und der Satz „historia magistrą vitae“ wird vielfach als ein namentlich durch die Erlebnisse der jüngsten Zeit tausendfach widerlegter Gemeinplatz empfunden.

Angesichts dieser schwerwiegenden Einwendungen gegen die Geschichtswissenschaft mag man auf die mehr oder minder befriedigenden Antworten verweisen, welche, seitdem es Menschen gibt, die sich mit geschichtlicher Kunde beschäftigen, direkt oder indirekt, je nach der Höhe der jeweiligen Kulturstufe, auf die Frage nach dem Sinn der Geschichtswissenschaft gegeben wurden. E ie Mannigfaltigkeit der Antworten fand und findet ihren Ausdruck in den verschiedenen Formen der Geschichtsdarstellung. Man unterscheidet bekanntlich eine referierende oder erzählende Darstellung, die vor allem die menschliche Wißbegier, insbesondere das Interesse an merkwürdigen Begebenheiten, zu befriedigen sucht und uns allenfalls auch ein Urteil über Recht und Unrecht in der Geschichte ermöglichen soll, dann die pragmatische, welche darauf angelegt ist, den Geschichtsbeflissenen in religiöser, moralischer oder politischer Hinsicht zu belehren und zu beeinflussen und ihm aus der historischen Rüstkammer Material für die Begründung seiner Anschauungen -und Ansprüche zu liefern, und endlich die genetische, die nach den Zusammenhängen fragt, und unter Berücksichtigung aller geschichtsbildenden Faktoren, wie geographische Lage, Klima, Rasse, physische und psychische Eigenart der handelnden Personen, bei jeder historischen Erscheinung danach forscht, wie sie sich entwickelt hat, und die so auch die Schlüssel zum Verständnis der Gegenwart uns anzubieten sich anheischig macht.

Aber zutiefst liegt der Sinn der Historie weder in der menschlichen Wißbegier und im Interesse an Sonderbaren, die menschliche Seele ergreifenden Ereignissen, noch in der Möglichkeit, aus der Geschichte politische Erfahrung und Belehrung zu schöpfen, die Gegenwart zu deuten oder gar einen Blick in die Zukunft zu tun. Auch das nur von mäßigem Erfolg gekrönte Bestreben, Gesetze aus der Geschichte herauszulesen, vermag die eingehende Beschäftigung mit dieser kaum zu rechtfertigen. Der Drang, sich mit dem geschichtlichen Ablauf zu befassen, ist in tieferen Bezirken der menschlichen Seele verwurzelt.

So wie der nicht dem Augenblick hingegebene und auch nicht in der Erwartung des Kommenden sich verzehrende Mensch immer wieder sich auf frühere Eindrücke, Erlebnisse, Stimmungen, Leistungen und Fehltritte, Erfolge und Mißerfolge besinnt, wie er all seine bisher gelebten Jahre bewußtseinsmäßig zu einer Einheit zu gestalten sucht, so ist es auch für die Menschheit als Ganzes, eine Nation oder sonst eine größere menschliche Gemeinschaft ein seelisches Anliegen, sich ihre Vergangenheit immer wieder zu vergegenwärtigen, das heißt also sie möglichst so zu empfinden, als ob sie Gegenwart wäre. Ungefähr die nämliche Funktion, die das Gedächtnis und die Lebenserinnerung für das menschliche Einzelwesen besitzt, hat die Nationalgeschichte für ein Volk, die Universalgeschichte für die Menschheit. Aber auch damit scheint mir noch nicht das Letzte über den Sinn der Geschichtswissenschaft gesagt.

Als Abspaltung des elementaren Triebes, vor allem sich selbst, dann aber auch seinen

Nächsten das irdische Leben möglichst lange zu erhalten, stellt sich das menschliche Bestreben dar, alles Zeitliche überhaupt, so gut es geht, zu verewigen im wahrsten Sinn des Wortes, die flüchtigen Erscheinungen in der Zeit tunlichst zu befestigen und sie damit dem Gesetz der Vergänglichkeit zu entziehen oder seine Wirksamkeit doch möglichst lange hinauszuschieben. Bei den körperlichen Dingen sucht man dies durch Konservierung zu erreichen, bei Einrichtungen und Zuständen durch konservatives Beharren, bei den einmaligen und unwiederholbar ablaufenden Ereignissen aber dadurch, daß man sie schriftlich festhält, so daß sie zumindest vor unserem Geiste jederzeit reproduziert werden können. So hat ės die Erfindung der Schrift dem Menschen ermöglicht, dem flüchtigen Geschehnis das Ephemere seiner Erscheinung dadurch einigermaßen zu nehmen, daß es schriftlich fixiert wird.

Immer wieder begegnet uns bei den Kulturvölkern der Drang, sowohl Sachen als auch Ereignisse vor dem Vergehen und dem Vergessen werden zu bewahren. Es geht im Grunde auf das nämliche Bemühen, Vergängliches zu perennieren, zurück, wenn die alten Ägypter ihre Toten mumifizierten, den abgeschiedenen Pharaonen allen Stürmen der Zeit trotzende Pyramiden errichteten, die Nachricht von geschichtlichen Begebenheiten in die dauerhaftesten Gesteine, wie Granit und Basalt, gruben und seit dem dritten vorchristlichen Jahrtausend die Namen und Regierungszeiten ihrer Könige aufzeichneten. Auch im Vorderen Orient be gegnen wir vielen in Stein gemeißelten Inschriften, die fernsten Geschlechtern von den Taten persischer Könige erzählen sollen, und zahlreich sind auch die Inschriften, in denen Römer die Kunde von ihren Werken der Nachwelt zu überliefern suchten; die Trajanssäule, eine Art Bilderchronik des dakischen Krieges, stellt eine der originellsten derartigen Berichte dar. Gewiß hat auch das Ruhmbedürfnis bei diesen und späteren Aufzeichnungen mitgesprochen, aber was ist es im Grunde anderes als das Bestreben, im Andenken des Volkes oder der Menschheit den Tod, die Vergänglichkeit und das Vergessen werden zu überwinden?

Denkmäler und bildliche Darstellungen von Vorgängen und Personen waren eben zu allen Zeiten in erster Linie dazu bestimmt, die Erinnerung an Gewesenes, Begebenheiten wie Persönlichkeiten, festzuhalten; aus dieser Gesinnung heraus, aus Pietät vor dem Einst sammelt man an die Vergangenheit gemahnende Dinge, „Antiquitäten“ im weitesten Sinne des Wortes, wie alte Briefe, Autogramme, Münzen, Bilder, Stiche, Photographien, Briefmarken, Geräte usw. Um Anhaltspunkte für die Verlebendigung früherer Erlebnisse zu besitzen, führen besinnliche Menschen Tagebücher.

Auch den Annalen und Chroniken, wie sie in der Geschichtsschreibung des Mittelalters dominieren, liegt das Bestreben zugrunde, Geschehenes zu fixieren und vor dem Absinken in den Ozean des Vergessens zu bewahren. Die moderne Geschichtsliteratur aber mit ihrem Bestreben, das Größte und Kleinste aus der Vergangenheit einzufangen und ein möglichst allseitiges plasti-: sches Bild vom Geschehenen und Gewesenen zu geben, ermöglicht es uns, große Partien aus der Geschichte fast wie einen Film jederzeit vor unserem geistigen Auge ablaufen zu lassen, die Vergangenheit im wahrsten Sinne des Wortes präsent zu machen. Ja, die moderne Filmtechnik gibt uns sogar die Möglichkeit, der Geschichte angehörende Szenen optisch und akustisch jederzeit nahezu so zu erleben, als ob wir deren Zeugen gewesen wären.

Liegt allerdings nicht etwas Eigentümliches, ja geradezu Paradoxes darin, daß einmalige Begebenheiten, die sich ja meist rasch, oft in wenigen Stunden oder Tagen abgespielt haben und an die sich die Beteiligten schon bald darauf kaum mehr oder nur unzulänglich erinnern können, wofern sie nur einmal im Buch der Geschichte verzeichnet worden sind, immer wieder vor tausenden sich mit ihnen beschäftigenden Lehrern und Forschern und vor Millionen von Schülern und historisch Interessierten in allen Einzelheiten abrollen?

Dem zutiefst in die menschliche Seele gelegten Bedürfnis, das Vergangene immer wieder zu verlebendigen, entspricht auch die Gepflogenheit der Kulturvölker der Gegenwart, ihre nationalen Gedenktage festlich zu begehen, und die Sitte, anläßlich der Wiederkehr von Geburts- und Todestagen geschichtlicher Persönlichkeiten deren Gestalt der Nachwelt wieder möglichst lebendig vor Augen zu stellen. Auch die Reliquienverehrung, die einst im kirchlichen Leben eine so große Rolle spielte, gehört irgendwie hieher.

Aber die katholische Kirche, diese wie kaum irgendeine andere Anstalt der Welt von historischem Sinn durchdrungene Institution, stellt nicht nur totes Gebein, mit Gold und Silber und Edelsteinen bekleidet, zur dauernden Verehrung auf die Altäre, um es so vor Zerfall und Verwesung auch im geistigen Sinne zu bewahren, sie vollbringt, was Verlebendigung des Vergangenen anlangt, etwas Unvergleichliches und Uniibertreffbares in der Gestaltung des Kirchenjahres; führt sie doch an dessen alljährlich immer wiederkehrenden Hochfesten die Tatsachen der Heilsgeschichte nicht nur durch Lesung und wechselnde Szenerien, wie Krippe, Passionsdarstellungen, Heiliges Grab und Bildnis des Auferstandenen, den Gläubigen sinnfällig vor Augen, sondern sie läßt durch ihre erhabene Liturgie diese Begebenheiten der Heilsgeschichte in mystisch-übernatürlicher Weise sich in jedem Meßopfer erneuern.

Man kann dieses im profanen wie im sakralen Bereich zu beobachtende Bestreben der Menschen, unwiderruflich Vergangenes nicht nur fortwirken, sondern irgendwie fortdauern zu lassen, es dem Gesetz der Vergänglichkeit zu entwinden, geradezu als metaphysisches Bedürfnis bezeichnen, weil es darauf hinausläuft, die Kategorie der Zeit zu überwinden und teilzuhaben an der Ewigkeit, die ja nicht in Unendlichkeit verlängerte Zeit ist, sondern ein wirkliches Jetzt ohne Vergangenheit und Zukunft, ein Beharren in der Fülle der eigentlichen

Gegenwart, wie es einmal jemand genannt hat'

Weil uns aber die Erfahrung immer wieder unwiderleglich vor Augen stellt, daß alles Bemühen, die Dinge dieser Welt zu verewigen, letzten Endes zum Scheitern verurteilt ist, daß die großen Gestalten und Begebenheiten der Menschheitsgeschichte, auch wenn wir sie uns noch so anschaulich zu vergegenwärtigen vermögen, doch unwiederbringlich vorüber sind and daß das Gesetz der Vergänglichkeit bestenfalls nur Aufschub, nicht aber Ausnahmen kennt, so kann der tiefer empfindende Mensch bei Betrachtung der Geschichte sich nicht einer gewissen Wehmut erwehren. Nur für den christlichen Geist, der das Leben als ein Durchgangsstadium, die Historie als einen riesigen Bericht über Bewährung und Versagen begreift, wird jener schwermütige Klang übertönt durch das Credo in vitam venturi saeculi, durch den Glauben an das kommende Reich Gottes, in welchem nichts vergeht und in dem es darum auch keine Vergangenheit und keine Geschichte, sondern nur ewige Gegenwart geben wird.

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