Risiko als Lebensform: Unsicher? Sicher!

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Das tiefe Bedürfnis des Menschen nach Sicherheit haben die Salzburger Hochschulwochen heuer zum Thema. Doch zu viel an Sicherheit ist nicht erstrebenswert. Eine Einführung.

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Das tiefe Bedürfnis des Menschen nach Sicherheit haben die Salzburger Hochschulwochen heuer zum Thema. Doch zu viel an Sicherheit ist nicht erstrebenswert. Eine Einführung.

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No risk, no fun? Nach Fukushima klingt nicht länger entspannt, was den Sound der Neunziger bestimmte. Die Angst vor der nächsten Kernschmelze kommt einer neuen Lebensformel näher: Unsicher? Sicher! Folgt man dem Soziologen Ulrich Beck, stellt die japanische Katastrophe unsere Risikoszenarien komplett um. Die Hochsicherheitsreaktoren verbürgen ihr Gegenteil. "Eines ist sicher: der nächste GAU. Unsicher ist nur noch, wann und wo.“

Zwischen Klimakatastrophen und Erdbeben, Ehec und Cyberwar, dem nächsten Terrorakt oder ersten Pandemie wird Sicherheit zur Lebensressource schlechthin. Ihre Aktien werden auf den Versicherungsmärkten hoch gehandelt. Sie legen Ökonomien an, die neue Machtkonstellationen schaffen. Wer über die größten Energiereserven, über seltene Metalle und Wasserreservoirs im Zeichen von Knappheit verfügt, wer sich als erster auf notwendige technologische Umstellungen einlässt, sichert Zukunftsfähigkeit und Lebenschancen. In der Dritten Welt stehen sie im Horizont puren Überlebens. Gleichzeitig versprechen Spekulationen am Markt hohe Renditen. Im vergangenen Jahr sicherte sich eine einzelne Firma ein Viertel der weltweiten Kakaoernte - die Preise stiegen und mit ihnen die Gewinne.

Die Börsen leben vom ökonomischen Spiel mit der Unsicherheit. Sie honorieren es mit einer Währung, die Risiko als Lebensform auszeichnet. Jeder kann dabei sein - theoretisch. Je stärker man von globalen Unsicherheitsszenarien betroffen ist, desto geringer sind die Chancen, aktiv an Marktgewinnen teilzuhaben. Das Geschäft mit dem Risiko wird von denen bestimmt, die sich seine Folgen am ehesten leisten können, auch wenn alle Menschen dieses Planeten davon betroffen sind. Höhere Wirtschaftskraft erlaubt besseres Risikomanagement. Der Welt-Risiko-Bericht liefert mit seiner Karte gefährdeter Weltregionen ein entsprechendes Ranking. Es legt eine Hierarchie der Risikoverteilung frei und zeigt, was Leben im Zeichen von Katastrophenprävention wert ist.

Beitrag der Religion und der Religionskritik

Im Zuge neuer Unsicherheitskulturen und globaler Gerechtigkeitsprobleme betreten Religionen die Bühnen des öffentlichen Interesses. Verdächtigte sie Karl Marx, über die Widersprüche hinweg zu betäuben, mit Illusionen einer weltentrückten Sicherheit zu impfen, entdeckt sie Religionskritik heute als Agenten politischer Unsicherheit. Die explosiven Monotheismen stehen am Pranger, Religionskonflikte schreiben Schlagzeilen im Takt einer Gewalt, die jeden überall erreichen zu können scheint.

Tatsächlich haben es Religionen wie das Judentum und Christentum mit der Bearbeitung des prekären Zusammenhangs von Sicherheit und Unsicherheit zu tun. Das Bedürfnis des Menschen nach Sicherheit stellt eine anthropologische Konstante dar. Ein Zuviel an Sicherheit birgt indes eigene Risiken. Die Abschärfung des Interesses, die Domestizierung produktiver Unruhe, die intellektuelle wie existenzielle Diät, die der Rückzug in sichere Lebensräume mit sich bringt - sie schaffen neue Unsicherheiten. Weltorientierung ist auf Überschreitung, auf Wege in unbekanntes Gelände angewiesen. Kunst und Wissenschaft, auch Religion sind ihre expressiven Formen. Sie gewinnen an Bedeutung in dem Maße, in dem sie in hoch unsicheren Lebenswelten kognitive Verortung und Sinnbestimmung, Risikokoordination und den Lebensgewinn erlauben, den bestandene Gefahren versprechen.

Funktionale Religionstheorien schreiben dem Glauben an Gott die Qualität der Bewältigung von Kontingenz zu. Die Reduktion von Unsicherheit erscheint als Generalformel ihrer besonderen Stellung. Das Christentum verbindet Sicherheit und Unsicherheit auf eigene Weise. Das Evangelium des jüdischen Wanderrabbis Jesus von Nazaret setzt seine Jünger dem Risiko radikaler Nachfolge aus. Eine echte Zumutung, aber alles andere als Harakiri. Unterwegs zu den Menschen erfahren und kommunizieren sie die Wirklichkeit des Reiches Gottes. Man muss seine Spuren suchen; man kann sie entdecken, wo man selbst der Menschenliebe Gottes Raum gibt. Das fordert etwas ab: Lebensressourcen zu teilen. Die gleichermaßen politische wie mystische Dialektik von Aufgeben und Finden ermöglicht eine eigene Wissensform unserer Existenz. Sie hat grundlegend mit der Bereitschaft zu tun, im Vertrauen auf einen Gott zu handeln, der gerade dann trägt, wenn das Leben zum Abgrund wird. Die Dialektik des sicher - unsicher besitzt Offenbarungsqualitäten.

Unruhe des Fragens und geistiges Risiko

Die biblische Rede von Gott legt urmenschliche Ängste vor Tod und Leben frei. Der Mensch wird in seiner ganzen Verletzbarkeit sichtbar, eine oft verlorene Kreatur. Geschaffen nach göttlichem Maßstab, treibt es den Menschen bei der ersten Gelegenheit aus dem Paradies. Er findet sich selbst und einer wenig freundlichen Umwelt ausgesetzt - eine dramatische Erfahrung existenzieller Unsicherheit. Das Buch Genesis spielt vor diesem Hintergrund die Möglichkeiten des Menschen durch, aber auch die Gottes. Die Narrative des stets erneuerten Gottesbundes mit den Menschen wie die Geschichtserzählungen Israels machen eine Erfahrung scharf, die sich mit der unsicheren Existenz eines kleinen Volkes zwischen den Großmächten seiner Zeit nicht verliert: Gott trägt Israel und mit ihm den Menschen.

Dass dieser Gott gar so sicher nicht erscheint, dass er menschlich durchaus infrage steht, gerinnt dabei zur Auskunft über seine Erfahrbarkeit. Das Buch Hiob verwickelt Gott in den Disput mit dem Leidenden schlechthin. Nicht die Freunde Hiobs, die beschwichtigen wollen, sondern den unnachgiebig Fragenden setzt Gott am Ende ins Recht. Gott ist kein Bilanzabschluss, der aufgeht. In seinem Gegenlicht zeigen sich stattdessen die Bruchstellen unserer Welt, offenbart sich, was die Gefährdung unserer Existenz bedeutet und woraufhin sie tendiert: auf Leben. So unsicher es bleibt, es wird nicht zu nichts, weil der Gott des Alten und Neuen Testaments die Entscheidung zu seiner Schöpfung nicht kassiert.

Die erste, grundlegende Beunruhigung unserer Existenz ist genau diese: Warum ist etwas und nicht vielmehr nichts? Aus der intellektuellen Unruhe des Fragens finden wir ebenso wenig heraus wie aus dem Risiko, immer neue "Höhlenausgänge“ (Hans Blumenberg) anlegen zu müssen: Wege ins Leben. Religionen tragen dazu bei, ihren Herausforderungswert zu bestimmen - gerade im Licht derer, die leiden, die ums Leben kommen.

No risk, no fun? Das Reich Gottes, von dem der Jesus der Evangelien spricht, arbeitet auf der Grundlage einer anderen Vorstellung, mit Bildern einer radikalen Gerechtigkeit: der Einschließung jedes Menschen in die Lebensmacht Gottes. Diese Perspektive offenbart, um was die laufenden Risikodebatten kreisen - um die Bestimmung des Menschen im Raum seiner gefährdeten Menschlichkeit. Unsicher? Sicher!

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