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Die Menschheit gleicht einem Kinde...

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Die Einheit Westeuropas fufjf im historischen Sinne auf dem Römischen Weltreich und der katholischen Kirche. Nach einer Epoche nach innen wirkender religiöser und politischer Auseinandersetzungen wird sich Westeuropa heute wieder einer tiefen kulturellen und weifanschaulichen Einheit bewufjt. Natürlich ist dieses Bewufjtwerden drohenden äufjeren Gefahren zuzuschreiben. Weil aber solche Gefahren einen ideologischen Charakter tragen, muf} sich auch die Antwort des Westens auf eine Ideologie stützen. Unsere Tradition ist nicht nur für uns selbst, sondern für die gesamte Menschheit von entscheidender, positiver Bedeutung.

Wenn man die Besonderheiten der abendländischen Kultur zu definieren versucht, kann man sie meiner Ansicht nach unter drei Gesichtspunkten zusammenfassen: dem sittlichen, politischen und geistigen.

Die sittlichen Vorstellungen, die den Westen mehr oder weniger deutlich kennzeichnen, haben ihren Ursprung im Christentum. Der Westen glaubt beispielsweise, so wenig dieser Glaube auch in der Praxis beherzigt worden ist, dah kein Mensch lediglich als Mittel zum Zweck aufgefaßt werden sollte, sondern dah jede menschliche Seele ihren Sinn in sich selber trägt. Aus dieser Ueberzeugung entsprang die Abschaffung von Folter und Sklaverei und in der neueren Zeit die mächtige Bewegung gegen jede wirtschaftliche Ungerechtigkeit. In anderen Teilen der Welt stöfjt man fast allgemein auf eine Gefühllosigkeit und Abgebrühtheit, die man im Westen mit Entsetzen betrachten würde. Wenn auch die Sklaverei jetzt nahezu überall abgeschafft ist, so doch nur infolge der westlichen Einflüsse, Ohne die humanitäre Halfung des Westens wäre es nie dazu gekommen.

Damit will ich flicht behaupten, dafj Staaten und Menschen des Westens nicht auch erschreckender Grausamkeiten fähig seien, sondern nur, dah solche Grausamkeiten dort Proteste auslösen würden, die häutig heftig genug sind, um Abhilfe zu schaffen, in anderen Teilen der Welt aber erst gar nicht ausgesprochen worden wären. Zwar haben die beiden Weltkriege die Mafjstäbe herabgedrückf, und ein dritter Weltkrieg würde vermutlich eine noch weitergehende Verrohung bewirken; aber ich glaube trotzdem an die Kraft der sittlichen Ideale, die das Leben des Westens in den letzten dreihundert Jahren efhisch gehoben haben. ,

In politischer Hinsicht zeichnet den Westen die Verbindung von zwei Einrichtungen au, die, für sich schon werfvoll genug, durch ihr Zusammenwirken doppelten Wert gewinnen: Rechtswesen und Selbstregierung. Im Osten haben die Herrscher immer über dem Gesetz gestanden. Im Westen waren sie, wenn es auch manchmal de facto so gewesen sein mag, doch niemals de jure über die Gesetze erhaben, und immer bestand das quasilegale Recht, Despoten zu beseitigen. Man erinnere sich, mit welchem Zögern während des letzten Krieges gewissen Freunden Hitler-Deutschlands die Freiheit durch Verwaltungs-okte entzogen wurde, wobei sie nur geringfügigen Unbequemlichkeiten ausgesetzt waren, und vergleiche dies mit dem Polizeiapparaf, den Hinrichtungen, den willkürlichen Verurteilungen zu Zwangsarbeit, die andernorts als selbstverständlich hingenommen werden. Die Selbstregierung des Volkes war zwar bis vor kurzer Zeit eher theoretisch als praktisch vorhanden, aber eine sehr mächtige Idee, die von den Monarchen mit Respekt behandelt werden muhte. Napoleon hatte einen Horror vor Tacitus, weil dieser die Kaiser zu kritisieren wagte, aber nicht einmal er konnte verhindern, dah Tacitus gelesen wurde. Die Tradition des klassischen Altertums, der traditionelle Konflikt zwischen Kirche und Staat und die Freiheit der mittelalterlichen Handelsstädte standen sämtlich als Hindernisse dem totalitären Staat entgegen und erst recht den philosophischen Lehren, die.ihn zu rechtfertigen suchten. Es ist kein Zufall, dah die Idee der Demokratie im Westen geboren und zuerst am westlichsten Rand des Westens verwirklicht wurde.

Die geistige Bedeutung der westlichen Nationen wird sich vielleicht doch einmal, aus einer gröfjeren Perspektive, als ihre wichtigste herausstellen, denn im Westen entstand die Wissenschaff, die heute im Guten wie im Bösen unser Leben beherrscht Zwar haben die Griechen den Anfang gemacht: Aristareh von Samos verkündete zum ersten Male die Theorie, die heute als die kopernikanische bezeichnet wird, und schon Archimedes verband die experimentelle Methode in sehr moderner Weise mit mathematischen Berechnungen; doch als er von einem römischen Soldaten getötet wurde, war der Beitrag der Griechen auf dem Gebiet der experimentellen Wissenschaft abgeschlossen. Die moderne naturwissenschaftliche Methode wurde von Galilei zum ersten Male angewandt, und seitdem nimmt die Herrschaff, die sie uns über die Kräfte der Natur gegeben hat, mit immer größerer Geschwindigkeit zu.

Im Augenblick fehlt uns die Weisheit, die mit unserem Wissen Hand in Hand gehen sollte, und die Menschheit gleicht einem Kinde, das ein Auto mit halsbrecherischer Geschwindigkeit dem Abgrund entgegensteuert. Unser- Wissen wird zweifellos zunehmen, aber es wird uns keinen Nutzen bringen, wenn es nicht von einem Zuwachs an Weisheit begleitet wird. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dah diese Weisheit, wenn überhaupt, so in erster Linie von den Völkern des Westens entwickelt werden kann, und da*; der ersfe Schritt darin bestehen muh, gemeinsam die Werfe zu wahren, als deren Treuhänder das Abendland — im Licht der bisherigen Geschichte — betrachtet werden darf.

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