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Kein Platz für Schrebergärtner?

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Die Sehnsucht nach einem Stückchen Land, einem Häuschen und dem damit verbundenen Privatleben scheint beim russischen Arbeiter heute schon wieder sehr stark zu sein. In den 43 Jahren ihrer Herrschaft über Rußland hat es die Kommunistische Partei offensichtlich nicht fertig gebracht, den natürlichen Drang der Menschen nach einer privaten Lebenssphäre und nach Eigentum zu vernichten. Wir sind heute Zeugen eines neuen und machtvollen Hinwendens breiter Schichten des russischen Volkes zum Individualismus, der sich trotz oder wegen der äußeren.Erfolge, die das Land aufzuweisen hat, rasch verbreitet.

Das geht aus vielen sowjetischen Zeitungsmeldungen hervor, die in den letzten Wochen die Praktiken in den sogenannten „Kollektivgärten“ schildern. Es sind dies Landflächen, die von den großen Trusts und Fabriken ihren Arbeitern und Angestellten zur kollektiven Bearbeitung überlassen werden. Das Glück, einmal ausschließlich für sich und die Seinen schaffen zu dürfen, ist dem Sowjetbürger seit jeher versagt geblieben. Es ist daher wirklich begreiflich, daß, wie es an einer Stelle heißt, solche Menschen buchstäblich „über Nacht als Individualisten wiedergeboren werden“. Sie stellen Zäune auf, errichten kleine Hütten, graben eigene Brunnen und trennen auf diese Weise innerhalb kürzester Frist eigene Kleinparzellen vom Gemeinschaftsgarten ab, in denen sie — gleich unseren Schrebergärtnern — nach Herzenslust schalten und walten können.

Viele „neue Grundbesitzer“ eilen schon vor Arbeitsschluß in ihren Garten und scheuen keine Mühe (und kein betriebseigenes Material), um diesen in eine blühende kleine „Warenwirtschaft“ zu verwandeln. Das nimmt bereits solche Formen an, daß die Produktion der betroffenen Werke darunter leidet. Die Zeitungen beklagen sich darüber, daß nunmehr auch jene mitgerissen werden, die bis jetzt abseits standen. Insbesondere aber verurteilen sie den verderblichen Einfluß, dem die Kinder durch das individualistische Beispiel unterliegen.

Das beglückende Gefühl, Eigentum zu besitzen, ist bei vielen schon so verwurzelt, daß sie meinen, ihren Garten bis ans Lebensende behalten zu dürfen. Sie stellen sich damit auf die gleiche Stufe mit den oberen Zehntausend, wo der Besitz einer „Datscha“ (Landhaus) bereits zum selbstverständlichen Vorrecht ihrer Dienststellung geworden ist. Andere wieder lassen Parzellen auf ihre Familienangehörigen schreiben oder verlangen für ihren Gartenanteil eine Ablöse, wobei von den zahlreichen Interessenten Beträge bis zu 20.000 Rubel geboten werden. Damit wird praktisch die Grundlage der Verfassung, wonach der Boden allein dem Staat gehört, grob mißachtet.

DER SCHIESS-STAND DER KAPITALISTEN Wenn man bedenkt, daß seit der Oktoberrevolution bereits die dritte Generation herangewachsen ist, müssen solche Tatsachen nachdenklich stimmen. Die Kommunistische Partei ist sich auch der großen Gefahr bewußt, die eine solche Entwicklung in sich birgt und entfacht in Betriebsversammlungen und in der Presse eine heftige Kampagne dagegen.

Der starken individualistischen Tendenz entspricht das Anwachsen der Privatinitiative. Hier wirkt sich zweifellos der durch den Fremdenverkehr verstärkte Einfluß des Westens aus. So gibt es zum Beispiel Leute, die es trotz aller Gesetze, Gefahren und Hindernisse fertigbringen, bis zu 30 Hektar Land privat nutzen zu können. Dabei werden sogar Traktoren, Pflüge und Eggen eingesetzt, alles „Produktionsmittel“, die der einzelne laut Verfassung gar nicht haben darf. Eine schier unglaubliche Tatsache für denjenigen, der die Sowjetunion kennt. Ein solches „privates“ Melonenfeld zum Beispiel wirft immerhin einen Gewinn von einer halben Million Rubel ab. Kein Wunder, daß derartige Beispiele angesichts der allgemeinen Versorgungslage Schule machen. Ein anderer Fall wird aus einer größeren Stadt berichtet, wo ein Schießstand eröffnet wurde. Die Menschen strömten in Scharen herbei, um das völlig neuartige Vergnügen zu genießen und zahlten gerne den geforderten Preis. Das Geschäft blühte. Erst nach geraumer Zeit stellten die Behörden fest, daß hier ein privater

„Parasit“ das Geld abschöpfte. Solche und ähnliche Verbrecher werden schnell der gerechten Strafe zugeführt.

DER PARASITÄRE OBSTHANDEL

Doch nicht nur die neuen „Unternehmer“, wie sie von den Zeitungen genannt werden, auch die kleinen Schrebergärtner wollen besser und leichter leben. Sie verkaufen ihr Obst und Gemüse zu erheblichen Überpreisen auf dem Markt. Das ist der Augenblick, auf den die Partei gewartet hat. Unter dem Vorwand, das Volk vor Preistreibern und Gaunern schützen zu müssen, greift sie ein. Die „individualistischen Überbleibsel der Vergangenheit“ müssen ausgerottet werden. Sind doch Menschen, die sich hinter eigenen Zäunen abschließen, schlechte Besucher politischer Versammlungen.'

Und doch gibt es allen Drohungen und Gefahren zum Trotz noch solche, die es wagen, in Leserbriefen gegen die Parteimeinung aufzutreten und für die Beibehaltung der individuellen Gärten zu sprechen. Leider entwickelt sich aus diesen' verschiedenen Ansichten kein sachlicher Meinungsaustausch, denn die Partei ist nicht für akademische Diskussionen — zumindest nicht dprt, wo sie die Macht hat. Getreu ihrem Grundsatz: Wer nicht arbeitet soll auch nicht essen, verwehrt sie den „Gaunern und Taugenichtsen“ das Recht auf Brot, Wohnung und Freude. Überall, so fordern die Kommunisten, soll jenen der Boden unter den Füßen brennen, nirgends dürfen sie Ruhe finden. In schnell einberufenen Versammlungen werden die notwendigen Resolutionen gegen den erwachenden Individualismus gefaßt: Rückkehr zum kollektiven Leben mit gemeinsamer Nutzung des Gartens bei Gewinnbeteiligung nach Tagewerken, gemeinsamer Verkauf der Ernte, Schleifung der Häuschen und Beseitigung der Zäune. Vom Fleckchen Land und dem eigenen Leben bleibt nur noch ein Traum ...

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