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Andreottis „ewiger Frühling“

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Giulio Andreotti, der Verteidigungsminister Italiens, ist im Kabinett Moro der Mann mit der längsten Regierungserfahrung. Für den Durchschnittsitaliener ist er das Regierungsmitglied, das immer war und- vermutlich immer sein wird. Die christlichdemokratische Partei hat ihn in der Consulta Nazionale 1946 zum Deputierten für die Konstituierende Versammlung gewählt, und im Juli 1947 hat ihn De Gosperi als Staatssekretär des Ministerpräsidiums in die Regierung genommen. Seither ist Andreotti immer „dabei“ gewesen, mit der einzigen Ausnahme der Achtzehn-Monate-Regierung Scelba 1954/55. Staatssekretär aller antikommunistischen Regierungen De Gasperis, also seit 1947, und dann unter Pello, Innenminister im kurzen Kabinett Fanfanis 1954, Finanzminister unter Segni und Zolt, Schatzminister im zweiten Kabinett Fanfanis und im zweiten von Segni, Verteidigungsminister mit Tambroni, im dritten und vierten Kabinett Fanfanis und jetzt unter Moro.

Warum diese Aufzählung? Der merkwürdigen Tatsache wegen, daß dieser Mann mit der längsten Regierungsverantwortung auch heute noch, nach siebzehn Jahren, zu den jüngsten Ministern gehört. Er ist im vergangenen Jänner erst 45 geworden. Für den Durchschnittsitaliener ist Andreotti ein junger Mann und wird es immer bleiben. Wenn seine Schultern krumm geworden sind, dann ist es nicht die Last des Alters, die sie gebeugt hat.

Auf Photos ist schwer festzustellen, aus welcher Zeit sie stammen: das dunkle, glatte, immer peinlich genau zurückgekämmte Haar mit dem leichten Brillantineglanz darauf ist immer gleich dicht, das Gesicht immer gleich faltenlos geblieben, immer blaß, denn Andreotti kommt an die frische Luft nur, wenn er irgendwo am Grabe des Unbekannten Soldaten einen Kranz niederzulegen oder die Reihen einer Ehrenkompanie abzuschreiten hat. Natürlich erscheint er auch manchmal zu einem raschen Besuch bei Manövern, aber man hat nicht feststellen können, daß ihm solche Ausflüge Freude machen. Von allen Verteidigungsministern, die Italien jemals gehabt hat, ist er der am wenigsten martialische. Neben den Generalen wirkt er stets als hoffnungslos verlorener Zivilist, der es kaum erwarten kann, zu seinen Büchern und seinen Studien zurückzukehren. Andreotti ist zwar ein typisches Beispiel für die Polyvalenz italienischer Minister, die in jedem Fach zu Hause sind, aber sein internationales Ansehen verdankt er dem Posten als Verteidigungsminister, der ihm von allen am wenigsten auf den Leib geschrieben ist. Es kommt das zunächst daher, daß in allen NATO-Ländern die Verteidigungsminister gewechselt haben, aber nur in Italien das Pentagon immer den gleichen verantwortlichen Mann vor sich sieht, seit fünf Jahren und länger in Rom einen Politiker als Partner weiß, dessen Ideen, Haltung und Einstellung hinlänglich bekannt und erprobt sind.

Diese Ideen sind klar, präzise und scheinen nicht dem Wechsel der Verhältnisse unterworfen zu sein. Zwar ist Andreotti Anhänger eines gewissen Pragmatismus, aber nur als Methode, nicht als Idee. Er hat Koalitionsregierungen angehört von vier, drei und einer Partei, solchen, die nach rechts tendierten, die sich genau in der Mitte hielten, solchen, mit Linkstendenzen wie die beiden letzten. Er weiß, daß „dabei“ zu sein für einen Politiker wichtigstes Gebot ist. Hätte er es nicht gewußt, würde es ihn das Beispiel seiner Parteifreunde Scelba und Pella gelehrt haben. Trotzdem hat sich Andreotti niemals etwas vergeben, und in keiner seiner brillanten Reden, wieviele Jahre sie auch zurückliegen mögen, findet sich etwas, das er lieber ungesagt gelassen haben würde.

Demokratie, Katholizismus, Anti-kommunismus sind die Leitmotive seines politischen Handelns. In Italien mag viel passieren, aber solange Andreotti Verteidigungsminister ist, das wissen die Amerikaner und die anderen NATO-Partner genau, kann man sicher sein, daß bestimmte Dinge nicht passieren können. Diese Zuverlässigkeit hat ihm die Sympathien der ausländischen Verbündeten verschafft, und die Botschaft der Bundesrepublik, zumindest in der Ära Kloiber, war geradezu in ihn verliebt, wollte ihn schon als künftigen Regierungschef Italiens sehen, und weil sie es wollte, meldete sie ihn nach Bonn als Favoriten.

Doch wenn Andreotti immer noch eine Persönlichkeit ist, auf die keine Regierung verzichten kann, so ist seine politische Potenz doch deutlich im Abnehmen. Die von ihm geführte Gruppe „Primavera“ („Frühling“) in der Democrazia Cristiana ist praktisch ein Anhängsel der Mehrheitsgruppe der „Dorotheer“ geworden, Verwalter des Erbes De Gasperis, und hat seit dem Parteikongreß im Jänner 1962 ihre Autonomie eingebüßt.

Andreotti ist neben Scelba der große Verlierer jenes Kongresses gewesen, der die „Linksöffnung“ zu den marxistischen Sozialisten Nennis sanktionierte. Exponent des Zentrums, Antimarxist bis ins Mark, ist er Sturm gelaufen gegen die Linksschwenkung, obwohl er sich auf verlorenem Posten wußte. Er hat seine Sache mit Leidenschaft vertreten, die Zuhörer mit einem Feuerwerk von Witz, Ironie und messerscharfer Argumentation mitgerissen, man hat ihm stürmischen Applaus geschenkt — und dann für Fanfani und Moro gestimmt.

Doch ist er nicht einer, der sich schmollend zurückziehen würde, wie der Sizilianer Scelba, der seither weitgehend von der politischen Bühne verschwunden ist Auch als Mitglied einer linksgeöffneten Regierung mit marxistischen Koalitionspartnern ist sich Andreotti treu geblieben. Die Angriffe politischer Gegner lassen ihn unberührt Von der Linken her wirft man ihm vor, sehr zu Unrecht, ein Freund Salazara und Francos zu sein, und ein orthodoxer Anhänger des „Atlantismus“; von der- Rechten wird er des Nachgebens gegenüber kommunistischen Koexistenzsirenen geziehen. Eben jetzt versucht ihn der reaktionäre „Borghese“, der sich an einem landläufigen Antikommunismus zu billigen Preisen inspiriert, anzuschwärzen, weil 3000 italienischen Soldaten erlaubt wurde, einem Abend des Chores der Roten Armee beizuwohnen. Aber selbst wenn Andreotti das gesamte italienische Heer persönlich zu der Vorführung russischer Gesänge und Tänze geführt hätte, würde es niemand ernsthaft einfallen, an der antikommunistischen Einstellung des Verteidigungsministers zu zweifeln.

Die extreme Rechte hat trotz ihres Antikommunismus keine Berührungsfläche mit dem Minister, denn Giulio Andreotti ist als echter Demokrat auch Antifaschist. Er ist es immer gewesen, schon in seinen Universitätsjahren, als er, 1942, zum Zentralobmann der katholischen Universitätsjugend ernannt wurde. Einem katholischen Jugendverband anzugehören und nicht einem der faschistischen Partei bedeutete damals zumindest, daß starke Vorbehalte gegen die faschistische Mystik angemeldet wurden. Er hat auch eine nicht unbeträchtliche Rolle in der Resistance gespielt was ihm De Gasperi näherbrachte.

Giulio Andreotti ist 1919 in Rom geboren. Die Begegnung des politisch Frühreifen mit dem Trientiner Politiker war für ihn schicksalhaft De Gasperi wählte sich ihn als seinen engsten Mitarbeiter. Der damals Achtundzwanzigjährige ist Vertrauensmann und Sprecher dieses Staatsmannes in einem Maße geworden, daß die Ideenwelt der beiden ineinander verschmolz. Die Gedanken De Gasperis wiedergebend, hat er in all den Jahren kein Mißverständnis heraufbeschworen, so sehr hat er sie absorbiert und assimiliert. Spöttisch nannte man ihn den „Dauphin“, aber in der Demokratie gibt es keine Kronprinzen, und andere waren es, die das Erbe antraten. Andreotti blieb es nur, dem Lehrer ein Denkmal zu setzen. Er tat es in dem besten biographischen Werk, das bisher über De Gasperi erschienen ist Aus Andreottis Feder stammen zahlreiche Essays über politische Geschichte, wie die beiden amüsanten Bücher „Sechsstimmiges Konzert“ und „Fastenmahlzeit mit dem Kardinal“. Er ist auch ein tüchtiger Journalist und publiziert eine Halbmonatsschrift, „Concretezza“, die die Ideen seiner Gruppe propagiert und nach amerikanischem Muster redigiert ist.

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