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Das foderalistische Element

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Reiseeindrücke aus der französischen Provinz legen dem Fremden die Frage nahe, woran es liege, daß manche Provinzen dieses herrlichen Landes heute etwas so Abgestorbenes, Verschrumpftes kennzeichnet, während sie doch einst, zu urteilen nach den vorhandenen Kultur- und Kunstdenkmälern früherer Zeiten, in hoher Blüte gestanden sind.

Die Frage wurde dahin beantwortet, daß der Zentralismus, jene starke Tendenz, das regionale Leben einzuschnüren und alles in den Bannkreis der Hauptstadt zu ziehen, den geistigen und kulturellen Verfall der Provinzen verursacht habe. Dagegen sei der ausgeprägte Partikularismus, die unwiderstehliche Neigung des Deutschen zum Föderalismus und zur Bildung kleiner Zentren, zwar politisch oft von schädlicher Wirkung gewesen, kulturell dagegen habe jedes Land, jede Region und jede Stadt von diesem Drang nach eigenem Leben doch großes Gewinn gehabt, so daß auch außerhalb der großen Zentren in deutschen Landen das Bild eigenen blühenden kulturellen Lebens sich darbiete.

So sah und urteilt ein Reisebericht. Man mag ein solches Urteil wie immer werten, es bietet allenfalls Gelegenheit zu der Betrachtung, daß sich in der Spannung zwischen Partikularismus und Zentralismus, Unitarismus und Föderalismus, Individualismus und Kollektivismus oder wie immer' man diesen Gegensatz bezeichnen will, eine Tatsache meldet, mit dem bei der Erwägung über die Ordnungsaufgaben im Rahmen der Kulturpolitik ebenso wie im Gesamtbereich alles politischen Geschehens stets gerechnet werden muß. Dieces Problem ist überdies nicht etwa ausschließlich ein politisches. Es ist vielmehr eines, das, spezifisch geistigen Ursprunges, in den mannigfachen Beziehungsbereichen der Menschen aufscheint.kl einer besonderen Hinsicht gibt das hertngerogene Problem m Betrachtungen Anlaß über den kulturellen Hintergrund, von dem sich die Tagesfragen, soweit sie soziale Verfassungsfragn mitumfassen, abheben. Auf österreichische Verbältnisse übertragen, heißt das Problem zugespitzt ausgedrückt: Wien versus Provinz und Provinz versus Wien. Oder, hinausgehoben über das konkret-individuelle Geschehen und in einem weiteren Sinne betrachtet: Föderalismus und Zentralismus.

Noch im Jahre 1924 konnte ein sehr bekannter, viel gereister, österreichische Kultur tief schätzender Deutscher, schreiben, daß das bürgerliche Leben in Österreich — Ausnahmen, vorzugsweise Wien, zugegeben — ohne eigenen Charakter sei. Die Talente, die in Österreich, wie überall, meist dem Bürgertum entstammen, strebten wie in Frankreich voll brennenden Ehrgeizes nach der Hauptstadt und trügen dadurdn zur Verödung der übrigen Gebiete bei. Das sei die Folge des Zentralismus, der die „Provinzen“ geistig aussauge, dafür aber so glänzende Sonnensysteme schaffe wie Paris und Wien.

Dem scharfen Beobachter österreichischer Verhältnisse sei nicht ganz zugestimmt, dagegen der Meinung Ausdruck gegeben, daß sich seither in den österreichischen Stammländern eine dem Zentralismus entgegengesetzte Strömung in geistige und kulturellen Belangen, derzeit gefördert durdi außergewöhnliche wirtschaftliche Umstände, geltend macht.

Gewiß, Wien wird für den Österreicher immer Zentrum hoher Kultur bleiben, zumal wenn es sich auch in politischer Hinsicht auf hohem, einsichtsvollem, seiner Kulturtradition entsprechendem Niveau erhält. Aber das Wort: „Der Österreicher als Kul-turmcnsdi steht und fällt mit Wien“, darf nur insofern Anspruch auf Geltung erheben, als es sich die Ergänzung zugesellt: „Wien als Kulturstadt steht und fällt mit Österreich.“ Denn Österreich ist der Idee und Konzeption nach, wie aller Ansdiein ergibt, heute in den Ländern ebenso sichtbar und bewußt wie in Wien. Wien sei — die Ausdrücke „Wien“ und „Österreich“ werden in dbsem Zusammenhang als Bezeichnungen für geistige Regungen und Bestrebungen gebraucht — nichts genomnieri von setner bezaubernden, weithin strahlenden Einzigartigkeit als großer geistiger Sammel- und Umschlagplatz, den seine Mission nach dem Osten weist und der nach dem Westen starke Bindungen erkennen läßt. Was es hiezu in den vielen Jahren als Haupt- und Residenzstadt eines in der Gesdiichte immer als erhaben geltenden Reiches erworben und geborgen hat, das wird es auch in der Zukunft treu bewahren und hüten. Daß es sich aber hiebei eines wichtigen Faktors, der die Grundlage zu seiner eigenartigen Stellung mitschuf, seiner Verwurzelung im spezifisch österreichischen, immer wieder bewußt bleibe, dazu scheinen die schicksalhaften Ereignisse nunmehr deutlich hinzuweisen. Denn darüber sind sich alle Österreicher im klaren, daß, trotz zugegebener zentralistischer Überspitzungen vergangener Jahre, kein Österreicher, mag er in Wien oder in den Ländern leben, zu einem Zentralismus reinsten Wassers hinneige.

Der Österreicher — wieder muß betont werden, ebenso der Wiener als Österreicher — ist Föderalist seiner ganzen Eigenart, seinem Gemüt, seinem Herzen, seinem Verstand, seinem Geiste nach. Der Österreicher besitzt nicht jene Bereitwilligkeit, sidi unterzuordnen, die ein straffer politischmilitärischer Zentralismus voraussetzt. Audi kennzeichnet ihn, im Gegensatz zum Romanen, ein Sinn für Autonomie, der bei ihm in konzilianten Formen zum Ausdruck kommt, so daß Oscar A. H. Schmitz sagen konnte, daß „in Österreich die Keimzelle einer ganz neuen Einstellung zum nationalen Problem zu finden ist“ („Der österreichische Mensch“). Dem Österreicher ist da* „Nationale“ kein Problem, sondern ein Gut, das man ebensowenig betont wie verleugnet

Er versagt sich allen zentralistischen und pangermanistischen Tendenzen, um der „österreichische Mensch“ zu bleiben. So kann auch Wien d a s Wien, unser Wien, bleiben, in dem ganz Österreich „Sitz und Stimme“ hat.

Die kluge und weise Durchsetzung der föderalistischen Ideenwelt mit Gedankea einer nützlichen und praktischen Zusammenfassung gemeinsamer, nur in Gemeinschaft, in engem Zusammenschluß zu leistender Aufgaben: das ist der goldene Mittelweg, der eigentlich allein jene Harmonie hervorruft, die in all ihrer Unvollkommenheit doch das Ziel ist und bleibt.

Der Kärntner Dichter J. F. Perkonig schrieb vor mehreren Jahren, daß sich die geistige Wiedergeburt in Österreich, eindringlich und beständig, klug bedacht und besonn* amgefunrt, eigentTien clrei

Menschen zu wenden habe, um von ihnen Gefolgschaft zu erlangen: an die Kühstier, die Journalisten und an die Beamten. „Jene beiden verwalten die Macht des Wortes, der eine zeitlos, der andere am Leitseil des AugenhTicfcs... Der Beamte Aer ■wird diesen Staat in sich mächtig oder kümmerlich machen . . . Die österreichische Provinz ist mehr als nur ein Behälter neuer junger Kräfte für die Menschenmühle Wien und sein guter dauernder Markt. Erkenntnis des Versäumten rnirJ guter Wille .. Sie sind die Voraussetzung für ein gesundes Verhältnis zwischen Wien und den Ländern. Dürfen wir sagen, daß dieses Wort des Dichters auch heute seine Geltung habe? Man darf die 'Frage wohl bejahen.

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