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Staatsverfassung und Heimatgedanke

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In Zeiten großer politischer und kultureller Not fliehen viele aus der Trübsal des öffentlichen Lebens und suchen Zuflucht in der Heimat und ihrer stillen Schönheit. Die Versenkung in die Heimat darf aber nicht zu selbstsüchtigem Vergessen auf jene Pflichten führen, welche echte und folgerichtige Liebe gegen Heimat und Heimatvolk auferlegen.

Was ist nun Heimat? Heimat ist ein Stück Landes, mit dem unsere gesamten Lebenskräfte aufs engste verwachsen sind. Je ausgeprägter die Sonderart unserer Heimat ist, desto ausgeprägter ist auch unser Heimatgefühl. Neben dieser engeren Heimat, die sich oft mit dem Begriff der Heimatgemeinde deckt, kennt das Heimatgefühl noch das Heimatland, das einen Teil des Staates bildet, dem wir als Bürger angehören. Diese gefühlsmäßige Verbundenheit mit einem Heimatland . ist gerade beim Österreicher besonders stark.

Die einzelnen österreichischen Länder sind in allgemein kultureller und im besonderen in politischer Hinsicht Individualitäten. Der Zusammenschluß dieser Länder im Österreich der Babenberger und Habsburger hob diese Individualitäten keineswegs auf. Erst als in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Absolutismus und Zentralismus einsetzten, ward die politische Individualität der Länder ernstlich bedroht. Die Verdächtigungen, welche die Vertreter von Absolutismus und Zentralismus gegen die Länderselbständigkeit vorbrachten, haben sich in der Folgezeit wenig geändert. Der Kampf gegen die Länderselbständigkeit ist aus Überspannung des an sich richtigen Gedankens erwachsen, daß eine Reihe von Staats-geschäfcen einer einheitlichen Leitung bedürfen, so die Vertretung des Staates nach außen, seine militärischen und finanziellen Angelegenheiten und bis zu einem gewissen Grade auch, die Wirtschaftspolitik. Die Überspannung des Einheitsgedankens bestand aber darin, daß man in der Umgrenzung der „gemeinsamen Angelegenheiten“ viel zu weit ging und von Selbstregierung in Ländern und Gemeinden nichts mehr wissen wollte.

Nach der Revolution von 1848 und der — wenn auch mit verändertem Regierungsapparat — erfolgten Wiederherstellung von Absolutismus und Zentralismus ging man neuerdings da-an, die Länderselbständigkeit, wie sie in der konstitutionellen Verfassung vorgesehen war, zu beseitigen und ihre Anhänger als Staatsfeinde hinzustellen. Dagegen wandte sich unter anderm der Ungar Eotvös in zwei geistreichen Schriften, die auch heute wieder eine gewisse Beachtung verdienen *.

Eötvös bekämpft jene Meinung, die in dem Landesgefühl oder — wenn man so sagen will — im Länderpatriotismus eine Gefahr für die Einheit Österreichs sah. Ähnlich bekämpfte 1869 der Österreicher Adolf Fischhof, Mitglied des österreichischen Reichsrates, den Zentralismus der liberalen Regierung Österreichs: „Nur der Zentralismus macht die Völker zentrifugal, man dezentralisiere Österreich und sie werden zentripetal **. Fischhof verwies auf das Beispiel der Schweiz und legte dar, wie die Schweiz' mit ihrer föderalistischen Verfassung und einem Mindestmaß von Zentralismus zu einem blühenden Staatswesen geworden sei.

Zweimal ist im alten großen Österreich der Versuch gemacht worden, zwischen Länderrecht und Recht des Gesamtstaates einen richtigen Ausgleich herzustellen: 1849 und 1860. Der eine Versuch ward vom Reichstag zu Kremsier 1849 unternommen; sein Verfassungsausschuß hat den Entwurf zu einer österreichischen Verfassung ausgearbeitet. Dieser Entwurf wahrte einerseits das politische Eigenleben der Länder, andererseits schlug er die Schaffung von Kreisen innerhalb der einzelnen Länder vor, deren Grenzen nach der nationalen Zugehörigkeit ihrer Bewohner gezogen wurden. Auf Kreistagen sollte die Selbstregierung dieser -Kreise gehandhabt werden. Der Entwurf, der in freiem Einvernehmen zwischen den Abgeordneten der verschiedenen Völker Österreichs zustande gekommen war, hätte eine vortreffliche Grundlage für die Wahrung des kulturellen Eigenlebens der verschiedenen Nationen bilden können, ohne die Staatseinheit zu gefährden. Man beachte es wohl, daß die österreichische Demokratie

damals einen gangbaren Weg gewiesen hat, den der Staat zu seinem Unheil nicht betreten hat.

Der zweite Versuch, Österreich föderalistisch umzugestalten, tritt im Oktoberdiplom des Jahres 1860 in Erscheinung. Die zentralistische Regierungsbürokratie und die zur Herrschaft gelangte liberale Partei haben diese Verfassungsurkunde unwirksam gemacht.

Starke Kräfte sind seit etwa einem Jahrhundert am Werk, an die Stelle bodenständiger Heimatkultur eine einförmige Allerweltszivilisation zu setzen. Die gewaltige Ausdehnung und Verstärkung des Verkehrs, sowie die Wirtschaft, im besonderen die Großindustrie, die alle nadi Schaffung eines großen, einheitlich geleiteten Wirtschaftsgebietes zielen, wirken gleichmachend. Sie sind die mächtigsten Freunde und Förderer des Zentralismus. Neben diesen Kräften war es die Bürokratie der Zentralregierung, die sich einem föderalistischen Österreich abgeneigt zeigte.

Gegenüber diesen, die alles nivellierende Zivilisation fördernden Mächten, kann die Vielfalt und der Reichtum bodenständiger Kultur sich nur erhalten, wenn der Heimat auch ein politisches Eigenleben gesichert ist. Selbstregierung und politische Eigenart bedingen sich wechselseitig, letztere kann ohne erstere nicht bestehen und die erstere fördert ihrerseits. Erhaltung und Ausbau der heimatlichen kulturellen Eigenwerte. Das politische Leben ist nur ein Teil des kulturellen Lebens; wenn wir die Heimat und ihre Kultur nicht bloß gefühlsmäßig, sondern auch mit dem Verstände lieben, müssen wir für ein politisches Sonderleben der Heimat eintreten.

Nationalsozialistischer Zentralismus und Absolutismus hätten bei längerer Dauer durdi Gleichmacherei und Umsiedlungen dem kulturellen Eigenleben der Heimat unwiederbringlichen Schaden zugefügt. Auch in dieser Hinsicht bewies der Nationalsozialismus jenen ihm anhaftenden Mangel an Folgerichtigkeit, jenes Streben nach Dingen, die in einem inneren Widerspruch zueinander stehen. Er sprach sich für Erhaltung von Heimatbrauch und Heimatsitte in den einzelnen Landschaften aus, tat aber in der Handhabung eines überspannten Zentralismus alles, um jede Form einer demokratischen Selbstregierung, ohne welche die Wahrung kultureller Eigenart nicht möglich ist, zu unterdrücken.

Wenn einmal die Zeit gekommen sein wird, an einen Neubau der österreichischen Verfassung heranzugehen, wird man einen wirklichen und nicht einen Scheinföderalismus anstreben müssen. Der österreichischen wie der reichsdeutschen Verfassungsarbeit

im 19. und 20. Jahrhundert gereichte es

nicht zum Segen, daß Verfassungen nach fremden Mustern geschaffen wurden. Diese Verfassungen waren in Land und Volk nicht verwurzelt, sie*habeh nicht an Überlieferungen des eigenen Landes und Staates angeknüpft. Auch unsere Verfassung müßte dem Heimatgedanken Rechnung tragen. Sie kann es, wenn sie den Ländern Selbstregierung, Bezirken und Gemeinden Selbstverwaltung gewährt. Vor allem muß die Abgrenzung der Rechte der Länder gegenüber jenen des Bundesstaates großzügig erfolgen, so daß das Eigenleben der Länder nicht gehemmt wird. Das bisherige Zweikammersystem mit Nationalrat und Bundesrat wäre beizubehalten, aber der Bundesrat müßte in höherem Maß als bisher zu einer „Länderkammer“ werden und auf die Behandlung der gemeinsamen Angelegenheiten stärkeren Einfluß erlangen. Die Länder als politische Individuen müßten gleiches Wahlrecht haben, so daß dem Landtag eines jeden Landes das Recht zusteht, eine gleiche Anzahl von Vertretern, etwa zwei für jedes Land, in den Bundesrat zu entsenden. Die Verfassung von 1920 bemißt die Zahl der \On jedem Land zu entsendenden Vertieter nach der Bewohnerzahl. Eine derartige ungleiche Vertretung der Länder widerspricht ihrer Eigenschaft als gleichberechtigter poli-' tischer Individualitäten, als die sie sich zum Bunde zusammenschlössen. Diese Logik eines bundesstaatlichen Verhältnisses hat man auch anderwärts anerkannt, so wenn in der Schweiz jeder Kanton je zwei Abgeordnete in den unserem Bundesrat entsprechenden Ständerat abordnet oder in den Vereinigten Staaten von Amerika jeder Staat die gleiche Zahl von Vertretern in den Senat entsendet.

Unser Bundesrat soll das Organ der Länder sein, der Nationalrat dem Willen des österreichischen Gesamtvolkes Ausdruck leihen. Wie in der Schweiz der Ständerat zu einem Hort der politischen, konfessionellen und sprachlichen Gruppen geworden ist und als wichtiges Gegengewicht gegen überspannte zentralistische Bestrebungen sidr erwies, so könnte auch unserem Bundesrat eine ähnliche wohltätige Wirksamkeit beschieden sein.

Eine jede Verfassungsarbeit in unserem neuen Österreich muß indessen mit Bedacht und ohne Überstürzung vorgenommen werden. Erfordert sie doch Mäßigung auf jeder Seite. Möge unserem Bundesstaate ein Föderalismus beschieden sein, wie er österreichischem Wesen entspridit. Nur der Föderalismus vermag jenes Eigenleben in den Ländern und Landschaften zu erhalten, aus welchem der vielgestaltige Reichtum österreichischer Kultur erwachsen ist.

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