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Eine Charta für Europa

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Jean-Jacques Servan-Schreiber ist seit 1953 Herausgeber der französischen Wochenzeitung „L'Express“. Im Jahre 1968 kam sein Buch „Die amerikanische Herausforderung“ auf den Markt und machte den Autor über Nacht berühmt. Das Buch war ein Aufruf an die Europäer, alte Vorstellungen fallenzulassen und gemeinsam die wissenschaftlichen, technischen und wirtschaftlichen Anforderungen zu bewältigen, damit Europa nicht zur amerikanischen Kolonie herabsinkt.

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Jean-Jacques Servan-Schreiber ist seit 1953 Herausgeber der französischen Wochenzeitung „L'Express“. Im Jahre 1968 kam sein Buch „Die amerikanische Herausforderung“ auf den Markt und machte den Autor über Nacht berühmt. Das Buch war ein Aufruf an die Europäer, alte Vorstellungen fallenzulassen und gemeinsam die wissenschaftlichen, technischen und wirtschaftlichen Anforderungen zu bewältigen, damit Europa nicht zur amerikanischen Kolonie herabsinkt.

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Servan-Schreiber vertrat die Ansicht, daß eine Gesellschaft, die nicht industriell, nicht wissenschaftlich und nicht wettbewerbsfähig ist, keinen Zugang mehr zur lebenden Geschichte habe und dazu verurteilt sei, die Geschichte zu erdulden. Natürlich übertrieb der Autor, und viele Behauptungen im Buch, das Servan-Schreiber selbst Stückwerk nannte, hielten strengen wissenschaftlichen Prüfungen nicht stand. Aber als Kampfansage gegen Chauvinismus und politische Kleinkrämerei in Europa erzielte das Buch einen sensationellen Erfolg.

Ein Buch aber genügt nicht. Die Zustimmung, die er von allen Seiten fand, drängte Servan-Schreiber, sich auf jenes Gebiet zu begeben, wo die Möglichkeit besteht, Ideen auch in die Tat umsetzen: auf das Gebiet der Politik. Im Oktober 1969 übernahm Maurice Faure den Vorsitz der Radikalsozialistischen Partei Frankreichs, die etwa dem linken Flügel der FDP in Deutschland entspricht. Faure berief eine Reformkommission ein, der Servan-Schreiber federführend angehörte. Sie verfaßte ein Manifest, und dieses Manifest der Radikalsozialistischen Partei diente als Grundlage des Buches, das Servan-Schreiber unter Mitarbeit von Michel Albert, einem hohen Beamten des französischen Finanzministeriums, und unter dem Titel „Die befreite Gesellschaft“ herausbrachte. Aus dem dreißigseitigen Manifest f für die Radikalsozialistische Partei, deren Generalsekretär und Parlamentsabgeordnete Servan-

Schreiber inzwischen geworden ist, wurde „eine Charta für Europa“ mit der zehnfachen Seitenzahl. Servan-Schreibers Großvater, Joseph Schreiber, war Deutscher und politischer Sekretär Bismarcks, legte aber 1869, ein Jahr vor Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges, sein Amt aus „Protest gegen die aggressive Politik“ des Eisernen Kanzlers nieder, ging nach Frankreich und wurde französischer Staatsbürger. So ist es nur zu verständlich, daß der Enkel in der Zusammenarbeit zwischen Franzosen und Deutschen eine der Voraussetzungen erblickt, soll Europa der amerikanischen Herausforderung standhalten.

„Selbstverständlich“, erklärt Servan-Schreiber, „ist Goethe in meinen Augen größer als Napoleon. Und ebenso wird die in Frankreich heranwachsende Generation erkennen, daß der größte lebende Franzose nicht de Gaulle, sondern Jean Monnet heißt“. De Gaulle hatte nach Servan-Schreibers Ansicht die gleiche Konzeption wie Bismarck, das heißt, er nützte die durch die Niederlage Deutschlands geschaffene Stellung aus, indem er „Deutschland soweit wie möglich im Zustand des ehemals besiegten und geteilten Landes“ beläßt. Nun könnte man einwenden — und bei Servan-Schreiber muß der Historiker immer wieder etwas einwenden —, daß Bismarck gar nicht versuchte, Frankreich niederzuhalten, doch ist dieser Einwand nicht wesentlich, denn Servan-Schreiber geht es nicht um historische Fakten, sondern um politische Konzepte. Deshalb ist sein Bekenntnis zur europäischen Zusammenarbeit wesentlich höher zu werten als einzelne historische Mißdeutungen: „Während der ganzen Regierungszeit de Gaulies fühlte ich mich den Deutschen verwandtschaftlich, wenn nicht zu sagen, brüderlich verbunden.“

Nun ist auch de Gaulle inzwischen Geschichte geworden, und Frankreich entfernt sich zwar langsam, aber ständig von de Gaulies politischer Konzeption. Was aber stellt sich Servan-Schreiber unter der ,,be-freiten Gesellschaft“ vor? Der Autor geht davon aus, daß zwei Drittel der Menschen unter dem physiologischen Existenzminimum leben. Auf der anderen Seite schöpft dagegen ein Drittel der Menschen aus dem vollen. Dies ist um so erstaunlicher, als es bisher nach Servan-Schreibers Ansicht keine Zivilisation verstanden hat, ein Ganzes an Techniken zu entwickeln, die es erlaubt hätten, die Produktivität der Landwirtschaft zu erhöhen:

„Die berühmten Reiche, die aufeinander gefolgt sind, haben unbestreitbare Fortschritte im militärischen, administrativen, juristischen und selbstverständlich künstlerischen Bereich erzielt; aber keines hat die Produktionstechniken verändert.“ (Auch diese Behauptung ist historisch nicht haltbar). Fest steht jedoch, daß die Entwicklung der Industrieländer seit der Mitte unseres Jahrhunderts ins Gigantische gestiegen ist. Dabei wurde erkennbar, daß die Abhängigkeit eines jeden von jedem und der wirtschaftliche Fortschritt zusammengehören: „Das Wohlergehen eines jeden Menschen hängt von der Tätigkeit anderer ab, und diese Abhängigkeit wird immer stärker.“

Das entscheidende Problem dieses ständigen wirtschaftlichen Fortschritts bleibt aber die Verteilung. Der Mangel in den früheren Epochen machte „die Unterdrückung durch Hierarchie“ notwendig, da zu wenig an Produkten vorhanden war, um sie auf alle gerecht zu verteilen. Bei der Überproduktion von heute in den Industrieländern ist diese Unterdrückung nicht mehr nötig. Es gilt vielmehr, „den Menschen von den wirtschaftlichen Zwängen zu befreien“. Wirtschaft und Politik dürfen nach Ansicht von Servan-Schreiber nicht in den gleichen Händen liegen. Als Beispiel für seine These führt er Schweden an, wo tatsächlich eine derartige Trennung herrscht und der Lebensstandard der höchste in Europa ist.

Um diese Trennung von politischer Gewalt und wirtschaftlicher Macht zu erreichen, schlägt Servan-Schreiber eine Reihe von Reformen vor. Eine der wichtigsten betrifft die Erziehung, deren Ziel es nicht sein darf, die Menschen den von der Wirtschaft diktierten Bedürfnissen anzupassen, sondern vielmehr einem jeden zu helfen, die Welt, in der er lebt, und ihre Zusammenhänge zu verstehen und ihn zu befähigen, auch am Aufbau von Reichtümern teilzunehmen. Schon in der Schule müssen die Ungleichheiten beseitigt und die Chancengleichheit hergestellt werden.

Ferner fordert Servan-Schreiber das

Ende des bestehenden Erbrechtes, damit der Austausch an der Spitze der Unternehmen verstärkt wird. Grundsätzlich darf die Rechtmäßigkeit der Führung im Betrieb nicht mehr mit dem Besitz verknüpft sein. Auch muß den Arbeitnehmern die Möglichkeit eingeräumt werden, einen direkten Einfluß auf die Auswahl der Führungskräfte auszuüben, da es keine wirksame Autorität mehr geben kann, die sich nicht auf das Vertrauen des Personals stützt. Servan-Schreiber lehnt jedoch die Sozialisierung der Betriebe ebenso ab wie die Mitbestimmung und Beteiligung der Arbeitnehmer an der eigentlichen Führung: „Die Wirklichkeit eines modernen industriellen Unternehmens besteht aus der Besonderheit der drei beteiligten Kräfte: der Lohnempfänger des Kapitals und des Managements.“ Jeder dieser Teile hat seine besonderen Aufgaben, die nicht vermengt werden dürfen.

Politisch aber sieht Servan-Schreiber die Lösung in den „Vereinigten Staaten von Europa“, was das Verschwinden der „nationalen Souveränität“ bedeutet. Als konkrete Aktion schlägt Servan-Schreiber eine europäische Antitrust-Gesetzgebung vor, um die Eurodollars zu kontrollieren, weü es nach Servan-Schreibers Ansicht keinen europäischen Kapitalmarkt gibt, wohl aber den Eurodollar-Markt. Die europäischen Industriestrukturen werden mehr und mehr durch Investitionen der amerikanischen Firmen gestaltet. Durch die Antitrust-Gesetzgebung soll auch die Steuerflucht begrenzt werden, Es soll ein europäisches Parlament geben, das aus demokratischer Legitimität hervorgeht. Die Vereinigten Staaten von Europa werden auch über eine multinationale, kollegial arbeitende Exekutive verfügen, die in direkter und allgemeiner Wahl zu ermitteln ist. Die Machtbefugnisse des Bundes werden sich auf die europäischen Währungen, die Verteidigung, die auswärtige Politik, die technologische Entwicklung, die Industriepolitik und die regionale Ausgleichspolitik erstrecken. Alle diese Forderungen sind nicht neu. Servan-Schreiber aber stellt sie als Generalsekretär einer französischen Partei, die danach strebt, in Frankreich an die Regierung zu gelangen. Dies gibt diesen Wunschgedanken vieler Europäer eine stärkere Aktualität. Immerhin ist der Fortschritt nicht zu leugnen, den die Radikalsozialißtische Partei Frankreichs genommen hat, deren herausragende Führer folgende Namen tragen: Leon Gambetta, dessen Haß gegen das Bismarck-Deutschland an Hysterie grenzte; Georges Clemen-ceau, der seinen Haß gegen Deutschland im Frieden von Versailles abkühlen konnte, und Pierre Mendes-Franoe, der die europäische Verteidigungsgemeinschaft zu Fall brachte. Es bleibt nur zu hoffen, daß sich Servan-Schreibers Europa-Ideen nicht nur in seiner Partei, sondern in ganz Frankreich durchsetzen, denn in Frankreich liegt der Schlüssel, wie schnell der europäische Zusammenschluß vorwärtskommt.

„DIE BEFREITE GESELLSCHAFT“ von Jean-Jacques Servan-Schreiber, Verlag Hoffmann und Campe, 307 Seiten, DM 24,—.

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