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Mit dem Wahler vom Jahr 2000

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Ein reizender Junge von zwei Jahren stellt sich als typischer Wähler des Jahres 2000 vor. Er interessiert sich für die Technik und liebt — so wird zumindest ernsthaft behauptet — klassische Musik. Der hoffnungsvolle Staatsbürger wurde unter tau-senden Kindern ausgewählt. Seit Tagen war ein gezeichneter Steckbrief im Fernsehen zu bewundern. Dieser Knabe ist sozusagen die Geheimwaffe der Regierung, mit der die Stimmberechtigten aufgerufen werden, im Referendum am 27. April 1969 von ihren Rechten Gebrauch zu machen. Trotzdem General de Gaulle persönlich in den anlaufenden Wahlkampf eingegriffen hatte und Couve de Murville diese Reform als ein bedeutendes nationales Ereignis be-zechnete, zeigt sich die Mehrheit der Nation an dieser Volksbefragung höchs unbeteiligt. Eine zu große Stimmenthaltung würde beweisen, daß Frankreich an den von de Gaulle gewünschten Reformen keinen Anteil nimmt. Derzeit liegen diesbezügliche Gesetze im Wortlaut nicht vor. Die in einzelnen Zeitungen erschienenen Texte wurden von offizieller Seite dementiert. Es ist weiterhin nicht bekannt, ob ein oder zwei Fragen der Nation vorgelegt werden. Schließlich junktimiert man mehrere Themen. Die Regionalisierung und die Refottn des Senates sind zwei verschiedene Probleme.

Welche Folgen können eintreten, sobald im Referendum die Nein-Stimmen überwiegen? General de Gaulle hat seine politische Zukunft in keiner Weise aufs Spiel gesetzt. Eine gaullistische Zeitung verkündete sogar, daß keine grundlegenden Optionen des Gaullismus zur Diskussion stünden. Im Falle eines negativen Ausganges der Volksbefragung dürfte sich laut zitierter Äußerung im Staate nichts ändern. Die geplanten Reformen verstauben dann in den Archiven.

Die Opposition bezeichnet das Referendum als ein Instrument, um die Niederlage in den Parlamentswahlen 1968 zu überwinden. Es ist jedem klar, daß ein ungünstiges Ergebnis des Referendums eine innenpolitische Krise erzeugt. Der für das Referendum zuständige Fachminister Jeanneney hat sowohl im Fernsehen wie in einer Aussprache im Hotel Georg V. vor einigen ausländischen Berichterstattern — unter anderem dem Korrespondenten der „Furche“ — deutlich zu verstehen gegeben, daß bei einem negativen Votum am 27. April Konsequenzen gezogen werden. Wird de Gaulle verärgert ein neues Einseidlerdasein in Colom-bey-les-deux-Eglises beginnen und seinem Dauphin Pompidou das höchste Amt des Staates übertragen? Verfassungs Juristen haben inzwischen eine andere Lösung ausgearbeitet, welche es de Gaulle gestatten würde, sein Gesicht zu wahren. Laut Artikel 11 der Verfassung vermag der Präsident der Republik auf Vorschlag der Regierung das Projekt eines Referendums der Nation vorzulegen. Damit wird zum Ausdruck gebracht, daß die Regierung Couve de Murville kollektiv demissioniert. Der Staatspräsident schiebt den Schwarzen Peter einfach sieinen Ministern zu.

In der neueren französischen Geschichte verlief nur ein einziges Mal ein Referendum zuungunsten der Regierung. Am 5. Mai 1946 wurde eine Verfassung von Frankreich zurückgewiesen. Vorher hatte bereits der provisorische Regierungschef de Gaulle sein Amt zur Verfügung gestellt. In seiner klassischen Rede von Bayeux am 16. Juni 1946 kündigte er jene Reformen an, die er in seiner zweiten Amtszeit als Präsident der Republik zu vollenden gedenkt.

Warum wurde nun dieses Referendum in die Wege geleitet und die rfjts C9,tgtai v tu i9iß Jwl> Reformen nicht vom Parlament beschlossen, wo die Gaullisten die absolute Mehrheit besitzen und sogar auf die Schützenhilfe der unabhängigen Republikaner verzichten können?

Die Erklärung dürfte im speziellen Regierungsstil de Gaulles liegen, der die Diskussionen im Parlament stets mit beachtlicher Skepsis verfolgte und die Volksbefragung als wichtigstes Instrument seiner Macht betrachtet. Nach den schweren Krisen des vergangenen Jahres, den sozialen Spannungen des März 1969 erwartet der Staatschef, daß ihm die Nation wiederum massiv das Vertrauen schenkt. General de Gaulle sieht sich als höchstes Vollzugsorgan der Nation. Das Volk alleine kann ihn in der Würde seiner Funktion bestätigen. So wurden von Seiten des Regimes zwei an sich technische Fragen mit politischen Hintergedanken verbunden. Respektiert auch der Wähler des Jahres 2000 die am 27. April 1969 gefällten Entscheidungen?

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