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Phasenwechsel in der Balkanpolitik

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Der ehemalige Gesandte, Max von Hoffinger, über die wechselvolle Geschichte der Balkanpolitik.

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Der ehemalige Gesandte, Max von Hoffinger, über die wechselvolle Geschichte der Balkanpolitik.

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Die Geschichte des Balkans ist nicht nur älter, sondern auch reicher an wechselnden Phasen als die irgendeines anderen Teiles von Europa. Bald ist er ein in sich geschlossenes politisches System — es ist die Zeit der griechischen Stadt-Staatenwelt —, bald Ausstrahlungszentrum politischer und geistiger Kräfte in der Alexanderzeit, im Hellenismus und in der Glanzperiode des Oströmischen Reiches, bald Ziel und Kreuzungspunkt auswärtigen Machtstrebens, also der späthellenistischen Epoche und der Verfallszeit des byzantinischen Reiches. Es gibt aber auch Zeiten, wo der Balkan, jedes politischen Eigenlebens beraubt, nichts ist als Provinz eines Reiches, entrückt allen Einwirkungsmöglichkeiten auswärtiger Kräfte, wie zur Römerzeit, und — als Zäsur zwischen der älteren und neueren Geschichte des Balkans — in den viereinhalb Jahrhunderten der türkischen Herrschaft. Gemeinsam ist der älteren und neueren Geschichte nur der vielfältige Phasenwechsel.

Die Morgendämmerung einer neuen Balkanpolitik setzte ein, als gegen Ende des 17. Jahrhunderts erst Österreich und bald darauf auch Rußland das weit über den Balkan hinaus vorgelagerte Kraftfeld des Osmanischen Reiches einzuengen und das Erwachen der diristlidien Balkannationen in ihr politisches Kalkül einzustellen beginnen. Diese ersten Kontakte bleiben jedoch lange ohne praktischen Erfolg. Peters des Großen Feldzug von 1711, den er mit einem Manifest für die Befreiung der Balkannationen eröffnet hat, endet mit beiderseitiger Enttäuschung, und die Hoffnungen, die der Balkan nach den Siegen des Prinzen Eugen auf Österreich hatte setzen können, werden durch Österreichs Niederlage 1739 begraben. Auch die von Katharina II. in ihrem ersten Türkenkrieg durch die Entsendung ihrer Flotte in die Ägäis entfachte griechische Erhebung bleibt eine Episode. Erst in den Napoleonischen Kriegen beginnt der Balkan, ohne zum eigentlichen Kriegsschauplatz zu werden, eine beträchtliche Rolle im Kräftedreieck Frankreich—Rußland—England zu spielen, was in der Einflußnahme auf die Politik der Pforte, in den mannigfachen Fühlungnahmen mit lokalen Faktoren und in den einander ablösenden Festsetzungen dieser Mächte auf den Jonischen Inseln und in Dalmatien zum Ausdruck gelangt.

Aus diesem Vorspiel tritt der Balkan mit dem Beginn des serbischen Aufstandes (1804) in eine neue Phase, in der die Balkanvölker selbst als aktive Faktoren der politischen Gestaltung auftreten. Zu den Donaufürstentümern Moldau und Walachei, die niemals ganz im türkischen Machtbereich aufgegangen waren und deren Abhängigkeit von der Pforte sich durch die russisch-türkischen Kriege weiter gelockert hatte, tritt nun ein tributäres Fürstentum Serbien, und bald darauf erkämpft Griechenland Freiheit und Eigenstaatlichkeit. Auch bei der bulgarischen Nation erwacht neues Leben, wenn sie auch nodi ein halbes Jahrhundert auf eigene staatliche Existenz warten muß.

Unruhen in Mazedonien, Bosnien, Albanien, Kreta begleiten und fördern den Prozeß des Zerfalls des Osmanischen Reiches und der staatlidien Neuordnung des Balkanraumes. Das Charakteristische dieser Epoche ist jedoch, daß alle politischen Regungen der Balkanfaktoren irgendwie im Kausalnexus zur Politik der europäischen Mächte stehen, entweder von ihnen inspiriert sind oder an eine Konstellation unter ihnen anknüpfen oder von ihnen unter Kontrolle genommen und gelenkt werden. Entscheidung bringt nicht das freie Kräftespiel der balkanischen Elemente, sondern die Politik der Großmächte, bald in Harmonie, bald unter Mißtönen des „Europäischen Konzerts“. Obwohl das politische Streben der christlichen Balkannationen im Grunde gleichgerichtet ist und auf Erweiterung einerseits ihres Territoriums, andererseits ihrer staatlichen Selbständigkeit auf Kosten der Türkei zielt, kommt es nicht zu einer gemeinsamen Front, weil jede dieser Kräfte ihre Ziele besser durch Anlehnung an die Politik dieser oder jener Großmacht zu erreichen hofft. Den Höhepunkt dieser im Schatten der Großmächte stehenden Balkanpolitik bezeichnet der Berliner Kongreß, dessen Neuregelung der balkanischen Verhältnisse nicht die Resultate der balkanischen Kraftverhältnisse, sondern weit mehr ein Kompromiß der interessierten europäischen Mächte — Rußland, Österreich, England — darstellt. Auch noch bei den nachfolgenden balkanischen Verwicklungen — serbisch-bulgarischer Krieg, griechisch-türkischer Krieg, den kretischen und makedonischen Wirren — ist dies noch der Fall. Sogar die jungtürkische Revolution von 1908 ist noch als Reflexerscheinung auf Umschichtungen in der Großmäditepolitik zu deuten.

Das Ende dieser Phase kündigt sich mit dem Ausbruch des ersten Balkankrieges (1912) an. Zum erstenmal schließen sich vier Balkanstaaten spontan zu gemeinsamer Aktion zusammen. Das Veto der Mächte gegen jede territoriale Veränderung wird von ihren militärischen Erfolgen einfach überrannt. Sogar Rußland — dessen Einspruch nicht ernst gemeint war und das die Aktion insgeheim durdi die Übernahme des Sdiiedsrichteramts für die Beuteverteilung gefördert hatte — muß es hinnehmen, daß die Auseinandersetzung der Alliierten im zweiten Balkankrieg (1913) keineswegs durch seinen Machtspruch, sondern durch die Waffenerfolge Serbiens und Griechenlands und das Eingreifen Rumäniens entschieden wird.

Der Beitrag der Mächte zur Neuordnung auf dem Balkan beschränkt sich auf die albanische Fehlgeburt. Im ersten Weltkrieg sind die Balkankräfte schon heißumworbene und eigenwillige Bundesgenossen beider Mächtegruppen. Als dann vollends die scheinbar vernichtete Türkei unter Führung Kemals es fertigbringt, den ihr von den Mächten aufgezwungenen Friedensvertrag von Sevres zu zerreißen, und als England das von ihm gegen die Türkei vorgeschobene Griechenland nicht vor schwerer Niederlage bewahren kann, wird es deutlich, daß der Südosten Europas mündig geworden ist. Wesentlich gefördert wird diese Entwicklung dadurch, daß von den zwei auf dem Balkan am stärksten interessierten Mächten die eine — Österreich-Ungarn — gänzlich verschwunden ist und die zweite — Rußland —, von ihrem inneren Umbau zur Sowjetunion voll in Anspruch genommen, sich temporär zu weitgehender Zurückhaltung in der Außenpolitik gezwungen sieht. Andererseits sind Jugoslawien und Rumänien weit über die Stellung von Balkanstaaten hinausgewachsen und zu beachtlichen Faktoren mitteleuropäisdier Politik geworden. Mit dem Ende des ersten Weltkrieges steht daher der Südosten Europas in einer neuen politischen Phase, die mit dem Schlagwort „Der Balkan den Balkanvölkern“ überschrieben werden kann.

In den zwei Jahrzehnten nach dem ersten Weltkrieg ist der Einfluß der Großmächte auf dem Balkan nahezu ausgeschaltet. Lediglich das Streben Italiens, sich eine Machtstellung auf dem Ostufer der Adria zu schaffen, läßt auf dem Boden Albaniens ein verkleinertes Abbild des Balkans des 19. Jahrhunderts fortdauern, in dem nun Jugoslawien die Rolle des Gegenspielers Italiens übernimmt. Im übrigen läßt sich nicht bestreiten, daß es auf dem Balkan in dieser Phase zu einer Stabilisierung und Konsolidierung gekommen ist, die dieser Raum bisher nicht gekannt hatte. Den Balkanstaaten, deren Politik von bedeutenden Staatsmännern (Kemal, Pasitsdi, Venizelos, Titulescu) geführt wird, gelingen konstruktive Lösungen schwieriger Fragen. So die endgültige Flurbereinigung zwischen der Türkei und Griechenland — allerdings um den hohen Preis der erstmaligen Anwendung des zwangsweisen Bevölkerungsaustausches im großen. Der enge Zusammenschluß Rumäniens, Jugoslawiens und Griechenlands, der sich durch den Hinzutritt der Türkei zur „Entente balcanique“ erweitert, hält das Revisionsbestreben Bulgariens in Schranken. Die Einräumung einer Freizone im Hafen von Saloniki an den verbündeten jugoslawischen Staat beugt einem jugoslawischen „Drang“ zur Ägäis vor.

Zwei Probleme konnten allerdings nicht einer völligen Lösung zugeführt werden: die makedonische Frage und die der inneren Konsolidierung des jugoslawischen Staatswesens. Bei der ersteren war die einzige Lösung, die sowohl die serbische als die bulgarisdie Nation wie auch die von beiden für sich reklamierten Makedonier hätte befriedigen können, dadurch verbaut, daß eine föderative Gestaltung, die alle drei Elemente vereinigt hätte, an der Unmög-lidikeit der Unterordnung einer der beiden Dynastien unter die andere scheiterte. Auch bei der zweiten stand der serbische Charakter des jugoslawischen Herrscherhauses hindernd im Wege, der bei den Nichtserben die Furcht vor der Präponderanz und dem Zentralismus Belgrads nidit zur Ruhe kommen ließ.

Der brutale Zugriff Mussolinis auf Albanien und Griechenland und bald danach der kaum minder brutale Druck Hitler-Deutschlands auf den ganzen Südosten zum Zweck seiner Einfügung in das Achsensystem riß alsbald den ganzen Balkan — mit alleiniger Ausnahme der Türkei — in den Strudel des zweiten Weltkrieges. Drei Jahre stand der Balkan unter der Herrschaft der Diktatoren, ohne daß es diesen gelungen wäre, die bodenständigen Kräfte zu konstruktiver Neuordnung heranzuziehen. Im Gegenteil, ihre Methoden weckten bei allen Balkannationen einen stets wachsenden Widerstand, der es nach dem Wechsel des Kriegsglückes im Osten, der siegreich vordringenden Sowjetunion, ermöglichte, fast mit einem Schlage Rumänien, Bulgarien, Jugoslawien und Albanien militärisch und politisch in ihre Interessensphäre einzufügen. Die Königsthrone von Sofia, Belgrad und Tirana verschwanden im Zuge dieser Entwicklung, während dem rumänischen noch ein Schattendasein vergönnt blieb. Einzig Griechenland konnte sidi, hauptsächlich infolge des Eingreifens britischer Truppen, außerhalb der sowjetisdien Vorfeldzone halten.

Es liegt auf der Hand, daß hiemit eine neue Phase der Balkanpolitik begonnen hat, die sich von der unmittelbar vorausgegangenen grundlegend untersdieidet und eher an die des 19. Jahrhunderts erinnert. Außerbalkanische Mächte haben sie herbeigeführt, und außerbalkanische Mächte sind an ihrer weiteren Entwicklung hervorragend interessiert, nur daß an Stelle des „Europäischen Konzerts“ jetzt das Trio der Weltmächte: Sowjetrußland, Großbritannien und — als völliges Novum der Balkanpolitik — Amerika getreten ist.

Einigen Aktiven in der neuen Lage — unter anderem der föderativen Umgestaltung Jugoslawiens — steht als Schattenseite gegenüber, daß durch die politische Gleidi-schaltung der drei nördlidien Nachbarn Griechenlands ein dreifach potenzierter Druck auf dessen langgestreckte und ungeschützte Nordgrenze entstanden ist, wo jetzt mit einem vereinigten bulgarisdicn und jugoslawischen Drang ans Meer gerechnet werden muß. Dieser balkanisdie Aspekt der Lage wird aber weitaus übersdiattet vom weltpolitisdien. Obwohl — oder vielleicht gerade weil — es Sowjetrußland gelungen ist, auf dem Balkan in einem kaum jemals erträumten Ausmaß Fuß zu fassen, zeigt es sich deutlich bestrebt, diesen Erfolg noch durch die Einbeziehung Griechenlands in seine Interessensphäre und durdi die Festsetzung an den Meerengen zu krönen.

Dies geht aus den an die Türkei gerichteten russischen Forderungen betreffs der Meerengen ebenso hervor wie aus der offenkundigen Unterstützung, die den sowjetisch orientierten griediischen Insurgenten seitens der drei nördlidien Nadibarstaaten zuteil wird. Diese Bestrebungen Sowjetrußlands, die es im Falle ihres Gelingens zum Herrn des ganzen Vorderen Orients machen würden, rufen schon an und für sich die Gegnerschaft Englands hervor, und dies um so mehr, als sie sidi nur als Teilausschnitt aus der größeren, weltpolitischen Frage darstellen: bis zu welchem Ausmaß die — an sich als bereditigt anerkannte — Forderung Rußlands auf Sdiaffung eines Sicherheitsvorfeldes befreundeter Staaten ausgedehnt werden kann, ohne zur Gefahr für alle anderen Staaten zu werden. Nunmehr haben auch die Vereinigten Staaten in denkbar eindeutigster Form zu erkennen gegeben, daß sie ein Hineinzwingen Griechenlands und der Türkei in das außenpolitische System Rußlands als für die friedliche Entwicklung der Welt untragbar ansehen. Es ist also eine den Balkan quer durchschneidende weltpolitische Konfliktslinie entstanden, längs der einerseits die Sowjetunion, andererseits die zwei angelsächsischen Mächte einander gegenüberstehen. Das Beunruhigende dieser Tatsache wird dadurch gemildert, daß anscheinend auf beiden Seiten der Wunsch besteht, diesen Konflikt auf dem Boden der „UNO“ auszutragen, auf dem bereits die ersten Vorpostengefechte stattfinden (sowjetische Beschwerde gegen die Anwesenheit britischer Truppen in Griedienland, griechische Beschwerde gegen die Unterstützung der Aufständischen durch die Nordnadibarn usw.).

Außer Zweifel steht jedenfalls, daß die „balkanische“ Epodie der Balkanpolitik beendet ist und daß der Balkan heute enger denn je mit der großen Weltpolitik verflochten ist.

Der Autor war von 1937 bis 1938 österreichischer Gesandter in Polen.

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