Protest-Dynamik - Bauern protestierten gegen Maßnahmen zur Senkung des Ammoniak-Ausstoßes in der Landwirtschaft – bis sie wieder zurückgenommen wurden. - © Foto: APA / AFP / ANP / Vincent Jannink

Polarisierung im Schnelldurchgang

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Die niederländische Regierung will den Stickstoffausstoß reduzieren. Die Proteste von Agrar- und Bausektor zeigen, wie rasant sich der Klimadiskurs auflädt – und liefern einen Vorgeschmack auf kommende Verteilungskonflikte.

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Die niederländische Regierung will den Stickstoffausstoß reduzieren. Die Proteste von Agrar- und Bausektor zeigen, wie rasant sich der Klimadiskurs auflädt – und liefern einen Vorgeschmack auf kommende Verteilungskonflikte.

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Man kann einiges sagen über den niederländischen Premier Mark Rutte. Dass es seiner Politik an gesellschaftlicher Vision fehlt. Dass er, der Chef der marktliberalen Volkspartij voor Vrijheid en Democratie, bisweilen versucht, auf der populistischen Welle mitzureiten. Oder dass er Anschuldigungen und Vorwürfe gerne weglacht und darin einige Expertise erworben hat. Was ihm aber niemand nachsagen kann, ist, dass er als Regierungschef nicht krisenerprobt sei. In seine Amtszeiten fielen MH17-Abschuss, Euro- Rettung und gewalttätiger Protest gegen die Unterbringung von Flüchtlingen.

Wenn Rutte nun, wie im November geschehen, von der „schwersten Krise“ seiner neun Jahre als Premier spricht, muss einiges passiert sein. International nahm man in diesem Herbst vor allem die Bauernproteste am Regierungssitz Den Haag wahr, die für niederländische Verhältnisse außergewöhnlich heftig waren. Doch gab es Kundgebungen unzufriedener Landwirte in diesem Herbst auch in den Nachbarländern Belgien, Deutschland und Frankreich. Woher also kommt die dramatische Rhetorik?

Die Krisenstimmung in Den Haag hat sich seit Monaten langsam, aber stetig aufgebaut. Am Anfang stand ein Urteil des Staatsrats, des höchsten Verwaltungsgerichts der Niederlande, von Ende Mai. Demnach verstößt die bisherige Praxis, Genehmigungen für Stickstoff freisetzende Aktivitäten mit Naturschutz-Maßnahmen zu kompensieren, gegen europäisches Recht – genauer die sogenannte Flora-Fauna-Habitatrichtlinie von 1992. Die Lizenzen von rund 18.000 Bau- und Infrastrukturprojekten lagen damit auf Eis – und die Projekte vorläufig still, darunter ein Autobahn-Ausbau, Neubausiedlungen oder der neue Flughafen Lelystad.

Multiple Zielkonflikte

Besonders brisant wird diese Entwicklung angesichts der Erwartung von Ökonomen, dass das niederländische Wirtschaftswachstum der letzten Jahre zu Ende geht. Hinzu kommt, dass im gesamten Land je nach Quelle 260.000 bis 290.000 Wohnungen fehlen. Zwei gewichtige Gründe, weshalb die Regierung in diesem Herbst versuchte, die Bauprojekte im Pause-Status wieder flott zu bekommen. Und plötzlich ist man mittendrin in einem multiplen Zielkonflikt: Beschäftigung, Wohnungswesen, Umweltschutz – man sieht, wie komplex die Lage werden kann, wenn man ökologische Standards nicht mehr als freiwilligen Luxus, sondern als bindende Verpflichtung interpretiert.

Relativ gesehen weisen die Niederlande beim Stickstoff mit 50 Kilo pro Hektar den mit Abstand höchsten Wert Europas auf. Zum Vergleich: Der österreichische liegt wie der EU-Durchschnittswert bei knapp 15 Kilo. Die Terminologie ist freilich nicht ganz exakt: Stickstoff an sich ist erst gefährlich, wenn er mit Sauer- oder Wasserstoff zu Stickoxiden bzw. Ammoniak reagiert und Luft oder Boden verschmutzt. Einer aktuellen Studie des naturwissenschaftlichen Forschungsinstituts TNO zufolge ist der Agrarsektor mit 61 Prozent Hauptverursacher, gefolgt vom Straßen- Verkehr mit 15 und der Industrie mit neun Prozent.

Um nun die Stickstoff-Emissionen drastisch zu senken, soll der niederländische Nutztierbestand um die Hälfte reduziert werden, findet die liberale Partei Democraten 66 (D66), die eher progressives urbanes Bürgertum vertritt. „Eine schmerzhafte Wahl, aber die Probleme mit der Haltung von Ferkeln und Hühnern sind sonst nicht zu lösen“, so der Abgeordnete Tjeerd de Groot in einer TV-Nachrichtensendung. Derzeit gibt es im Land rund 1,6 Millionen Milchkühe, 12,5 Millionen Ferkel und 100 Millionen Hühner.

In der Den Haager Mitte-Rechts-Koalition trifft dieser Vorschlag auf wenig Zustimmung: Während die VVD von Premier Rutte eher auf technologische Innovation zur Stickstoff-Reduzierung setzt, gelten die Christdemokraten (CDA) als ausgesprochene Agrar-Partei. Als die zornigen Bauern Anfang Oktober zum ersten Mal unweit des Parlaments demonstrieren, macht Landwirtschafts-Ministerin Carola Schouten vom calvinistischen Junior-Partner Christen-Union (CU) die Ansage, in ihrer Amtszeit werde es „keine Halbierung des Viehbestands“ geben. Gut für die einstweilige Beruhigung der Lage, doch womöglich ein Bumerang für die Koalition, die im Parlament derzeit keine Mehrheit hat.

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