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Rezept für „Nachgaullismus“

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Das vergangene Jahr brachte Frankreich eine Fülle von Büchern, die sich mit dem Phänomen de Gaulle befassen. Ihre Verfasser lassen sich bequem in drei Kategorien einordnen: diejenigen, die den General lieben und verehren, diejenigen, die ihn hassen und seine Politik en bloc verwerfen, und.diejenigen, die ihn früher bewunderten und heute bekämpfen. Zu der letzten Gruppe gehört der ehemalige Minilsterpräsident Paul Reynaud, der seinem polemischen Werk über die Gaullistische Außenpolitik eine innenpolitische Abrechnung unter dem Titel „Et apres?“ (Was kommt nach de Gaulle?) folgen läßt. Auf knapp 200 Seiten schildert der 86 jährige, quicklebendige Staatsmann das progressive Abgleiten der Fünften Republik in ein autoritäres Regime, in dem das Schicksal eines Volkes vom Willen und Charakter eines Mannes abhängig geworden ist. Mit dialektischer Überzeugungskraft und gestützt auf Dokumente weist der Verfasser nach, welch ein Abgrund der Ungewißheit sich den Franzosen und ihren staatlichen Einrichtungen auftut, wenn die Volksmehrheit weiterhin gegenüber den systematischen Verfassungsverletzungen der höchsten Autorität in passiver Resignation verharrt.

Es ist bekannt, daß Paul Reynaud der eigentliche „Erfinder“ de Gaul-les ist. „Wenn ich ihn nicht zum Unterstaatssekretär in meiner Regierung gemacht und ihm nicht zwei Sterne verliehen hätte, wäre er jetzt ein unbekannter, pensionierter Oberst“, bemerkt er heute etwas melancholisch im Gespräch, fügt jedoch sofort hinzu, daß er es keineswegs bereue, dem General zur historischen Rolle im Widerstandskampf des zweiten Weltkrieges verholten zu haben. Seit 1938 hat Reynaud an den Obersten de Gaulle geglaubt und war noch 1958 einer seiner treuesten Anhänger. Als aber der heutige Staatspräsident 1962 die eigene Verfassung als „toten Buchstaben“ zu behandeln begann, wurde er zu seinem erbitterten Gegner. In seinem letzten Buch erinnert er daran, wie er — als Präsident des beratenden Verfassungsausschusses — dem damaligen Ministerpräsidenten de Gaulle die Frage stellte, ob nach seiner, de Gaulles, Auffassung der vom Staatspräsidenten berufene Premierminister von diesem abberufen werden könne. De Gaulle antwortete wörtlich: „Nein. Denn in diesem Falle könnte er nicht wirklich regieren. Der Premierminister ist vor dem Parlament verantwortlich und nicht vor dem Staatschef. (...) Der Staatspräsident ist — das möchte ich ausdrücklich betonen — in erster Linie ein Schiedsrichter, der, was auch kommen mag, den Auftrag hat, das Funktionieren der öffentlichen Einrichtungen zu si-, ehern.“ <L\ -| jr flf tf^

Doch schon wenige Monate später — am 13. September 1962 schrieb de Gaulle über den Kopf der Nationalversammlung hinweg ein Referendum aus und erklärte in der Prassekonferenz am 31. Jänner 1964, daß der Staatspräsident allein die Staatsautorität trage und delegiere und daß keine andere — weder ministerielle noch zivile noch militärische noch richterliche — existiere, die nicht von ihm verliehen und gewährleistet werde. Schon vorher waren die Vorrechte des Parlaments so zusammengeschmolzen, daß die Nationalversammlung

— nach dem Urteil Paul Reynauds zu einer Registrierkammer eines souveränen und omnipotenten Willens herabgesunken war. Das Referendum qualifizierte er schlechthin als Staatsstreich.

Der alte Politiker hat keine Sehnsucht nach schwachen und kurzlebigen Regierungen der Vergangenheit. Auf Grund seiner jahrzehntelangen, bitteren Erfahrungen als Minister und Parlamentarier in der Dritten und Vierten Republik ist er heute weitblickend genug, für die Sicherung der Regierungsstabilität in der Verfassung einzutreten; aber er verwirft das Hauptargument der gegenwärtigen gaullistischen Mehrheit, die das bestehende Regime als Reaktion auf das Durcheinander der Vergangenheit zu rechtfertigen versucht. Am Schluß seiner kritischen Betrachtung macht Paul Reynaud konkrete Vorschläge für eine Verbesserung der Verfassung, die sowohl der parlamentarischen Unabhängigkeit als auch der Regierungsstabilität entgegenkommen. So empfiehlt er die automatische Auflösung der Nationalversammlung, wenn sie die Regierung in den ersten beiden Jahren nach der Investitur des Regierungschefs stürzt. Weiterhin setzt er sich für die Gründung eines Verfassungsgerichtshofes ein, der jedem Bürger offenstehen soll. Dagegen tritt er temperamentvoll für die Entfernung einiger wesentlicher Elemente aus der französischen Verfassung ein, die von der Weimarer Verfassung inspiriert waren und die — mit dem Blick auf die Vergangenheit — vom Bonner Grundgesetz nicht übernommen wurden. Dazu gehört das Recht des Staatspräsidenten auf die Parlamentsauflösung, die in Deutschland maßgebend zur Erschütterung des parlamentarischen Regimes beigetragen hatte. Ferner fordert er die Abschaffung des Referendums, dieser bevorzugten Waffe der Diktaturen, die es ihnen gestattet, sich der parlamentarischen Debatte von Regierungsprojekten zu entziehen. Er verlangt die Beseitigung des Notstandsartikels 16 (Analogie zum Artikel 48 der Weimarer Verfassung), der, nach seiner Überzeugung, in der nachgaullistischen Periode eine verheerende Auswirkung haben könnte. Mit der Beseitigung der Direktwahl des Staatspräsidenten durch das Volk soll die Dualität zwischen dem Staatspräsidenten und der Nationalversammlung eliminiert werden.

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