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Ist Europas Kultur „europäisch“?

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Kultur ist ein Begriff, den man immer wieder von neuem definieren muß, und nicht allein definieren, sondern auch veranschaulichen. Wir müssen uns über die Bedeutung dieses Begriffes genau im klaren sein, domit wir einen Trennungsstrich ziehen können zwischen der materiellen Organisation und dem geistigen Organismus Buropas. Wenn Europa als geistiger Organismus abstirbt, dann wird das, was uns zu organisieren übrigbleibt, nicht mehr Europa sein, sondern nur eine Masse von menschlichen Existenzen, die verschiedene Sprachen reden. Ja, die verschiedenen Sprachen werden ihre Existenzberechtigung verlieren, da diese Menschen nichts mehr zu sagen haben würden, was sich nicht genau so gut in jeder beliebigen Sprache sagen ließe; da sie nichts mehr zu sagen hätten in der Sprache der Dichtung. Es kann keine „europäische“ Kultur geben, wenn sich die Länder Europas isolieren. Ebensowenig kann es eine europäische Kultur geben, wenn ihre nationalen Eigenarten zur Gleichförmigkeit verschmelzen. Was wir brauchen, ist Mannigfaltigkeit, der eine Einheit zugrunde liegt, aber keine organisatorische, sondern eine natürliche Einheit.

Unter „Kultur“ verstehe ich die besondere Lebensweise eines Volkes, die sich durch sein Zusammenleben auf gleichem Boden herausgebildet hat, Diese Kultur äußert sich in der Kunst eines Volkes, in seinem sozialen System, seinen Sitten und Gebräuchen, seiner Religion. Aber all dies zusammen isf noch nicht die Kultur des betreffenden Volkes, obgleich wir es der Einfachheit halber oft so ausdrücken. All diese Efinge sind nur die Bestandteile, in die eine Kultur zerlegt werden kann — geradeso wie sich der menschliche Körper anatomisch zerlegen läßt. Genau so wie der Mensch mehr ist als die Summe seiner Organe und Glieder, so ist auch die Kultur mehr als die Summe von Künsten, Gebräuchen und religiösen Überzeugungen. Alle dięse Elemente wirken aufeinander ein, und wenn man eines völlig verstehen will, muß man alle verstehen. Es gibt natürlich höhere und niedrigere Kulturen; die höheren zeichnen sich gewöhnlich durch eine stärkere Differenzierung ihrer Funktionen aus, so daß man von den mehr und den weniger kultivierten Gesellschaftsschichten sprechen kann. Und schließlich kann man auch noch Einzelmenschen als besonder kultiviert bezeichnen. Ein Künstler, ein Philosoph werden eine andere Art der Kultur besitzen als ein Land- oder Bergarbeiter; die Kultur eines Dichters wird nicht ganz dieselbe sein wie die eines Politikers. Aber in einer gesunden Gesellschaft sind dies alles nur Schattierungen einer und derselben Kultur: Künstler, Dichter, Philosophen, Politiker und Arbeiter eines Landes werden miteinander eine Kultur gemeinsam haben, die sie nicht mit ihren Berufskollegen in anderen Ländern teilen, Menschen einer anderen Sprache. Und doch muß immer wieder gesagt werden, daß die Kulturen verschiedener Völker einander nicht unberührt lassen. Ja, die Zeit ist wohl nicht mehr fern, da alle Teile der Welt dauernd aufeinander einwirken werden. Länder, die Kultur nur von außen aufsaugen, ohne etwas vpn sich selbst zu spenden, werden diese Einseitigkeit zu büßen haben, genau so wie Länder, die ihre Kultur anderen aufzwingen wollen, ohne selbst aufnahmebereit zu sein.

Einen allseitigen, gleichmäßigen Austausch kultureller Werte gibt es allerdings nicht. Auch auf wirtschaftlichem Gebiet kann man nicht mit allen Ländern gleichmäßig Handel treiben: manche benötigen die Güter, die man selbst herstellt, mehr als andere; einige erzeugen die Waren, die man einführen will, andere nicht. Genau so ist es auf dem Gebiet der Kultur; es gibt Länder mit engen und solche mit weniger engen kulturellen Bindungen. Manchmal ist das Band so stark, daß man von einer Kulturgemeinschaft sprechen kann. Wenn wir also den Ausdruck „europäische Kultur“ gebrauchen, meinen wir die Elemente, die innerhalb der verschiedenen nationalen Kulturen die gleichen sind. Natürlich stehen manche Länder Europas einander näher als andere. Es kann sogar Vorkommen, daß ein Land eine starke kulturelle Verwandt- schaff mit zwei verschiedenen Ländern aufweist, die ihrerseits nur sehr lose Verbindungen besitzen. Es gibt ja auch in der Familie Vetter mütterlicherseits und Vetter väterlicherseits, zwischen denen keine direkte Verwandtschaft besteht. Genau so wie ich es also ablehne, die europäische Kultur als Summe einer Anzahl von Einzelkulturen anzusehen, wend$ ich mich auch gegen die Einteilung die Welt in scharf getrennte Kulturgruppen. Es gibt meiner Ansicht nach keine absolute Scheidelinie zwischen Ost und West, zwischen Europa und Asien. Aber es gibt innerhalb Europas gewisse gemeinsame Züge, die uns das Recht geben, von einer europäischen Kultur zu sprechen,

Die Einheit der Kultur, im Gegensatz zur Einheit der politischen Organisation, verlangt von uns nicht, daß wir nur einem Herrn dienen. Sie bringt Loyalität verschiedener Art mit sich, Es ist schon falsch, anzunehmen, daß das Individuum nur eine Pflicht hat; die Pflicht gegenüber dem Staat, Geradezu haarsträubend scheint mir aber die Ansicht, diese oberste Pflicht jedes Individuum bestünde gegenüber einem Superstaat, Wir mögen politisch ganz verschieden denken: unser aller Pflicht ist es jedoch, unsere gemeinsame Kultur vor dem Ansturm der Politik zu bewahren, Das Wesentlichste ist, daß wir uns klar sind über das Band, das uns miteinander verknüpft, über unsere Abhängigkeit voneinander. Das Wesentliche ist, daß isoliert, von den anderen ab geschnitten, keiner von uns imstande ist, Werke zu schaffen, die von unserer hohen Zivilisation Zeugnis ablegen.

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