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Wiederaufsteigender Halbmond ?

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Die Vertreter von acht arabischen Staaten sind beim State Department in Washington vorstellig geworden, um gegen das Vorgehen Frankreichs in Nordafrika zu protestieren und sich mit den Eingeborenen Marokkos solidarisch zu erklären.

Welches ist der Faktor, der die arabische Völkerrasse auf der Basis gemeinsamer Interessen zusammenführt? Man muß hier auf jenen gerneinsamen Nenner zurückgreifen, der das Schicksal des Mittelmeerbeckens Jahrhunderte hindurch bestimmte: auf den Glauben! Wenn sich auch Zweck, Bedeutung und Wirkungsmöglichkeiten der ursprünglichen Triebfedern verschoben haben, wenn auch die Antithese „Kreuz und Halbmond“ nicht mehr im ursprünglichen Sinne und der einstmaligen Tragweite aufgestellt werden kann, so kann man doch nicht die Augen davor verschließen, daß die durch das Symbol des Halbmondes gegebene Gemeinsamkeit sich in größerem Maße erhalten hat, als die einigende Kraft des Kreuzes. Daß rassische Faktoren allein nicht als Erklärung der arabischen Interessengemeinschaft genügen, ergibt sich, sowohl aus der Verschiedenheit der Sprache wie des Kulturniveaus. Der Nomade der Wüste ist mit einem Großkaufmann von Rabat oder Tanger ebensowenig zu vergleichen, wie der Berber aus dem Atlasgebirge mit einem syrischen Lebemann, ebensowenig wie irgendein Eingeborener Nordwest-Afrikas sich mit einem Bewohner Kleinasiens zu verständigen vermag. Es gibt nur eine Gemeinsamkeit der islamitischen Völker: den Islam selbst! Es gibt nur eine Sprache, die ein libyscher Grundherr ebenso versteht wie ein Lastträger aus Tetuan: die Sprache des Korans. Es gibt nur ein Symbol, das dem einen wie dem anderen ebenso vertraut wie heilig ist: der Halbmond!

Daß die Interessengemeinschaft des Islams und hiermit auc? seine Kraft jahrhundertelang brachgelegen 'and, ändert nichts an dieser Tatsache, ebensowenig wie der Umstand, daß nur infolge dieses Brachliegens und fatalistischen Sich-gehen-lassens die Entwicklung der europäischen Kolonial- und Protektoratspolitik in den islamitischen Ländern des Mittelmeerbeckens möglich war. Das französische Protektorat in Syrien ebenso wie das internationale Dominium in Jerusalem, die italienische Cäsarenpolitik in Tripolis wie die französische Imperatorenkolonisation in Algier, Tunis und Marokko wären nicht möglich gewesen, wenn nicht die europäischen Regimenter ebenso auf unorganisierte, mit vorsintflutlichen Waffen ausgestattete Massen gestoßen wären, wie die europäischen Politiker auf Fürsten und Stammeshäuptlinge, die, sich gegenseitig bekämpfend, die Hilfe und Stütze der europäischen Machthaber suchten. Auch die europäischen Techniker und Ingenieure fanden eine nahezu willenlose Masse vor, aus der sie billigste und willigste Arbeitskräfte schöpften, um Straßen, Kanäle, Eisenbahnlinien und Hafenanlagen zu bauen.

Wenn man sich in Erwägung dieser Tatsachen die Frage stellt, was sich in den letzten Jahrzehnten und Jahren geändert hat, warum es keine träge, willige Masse mehr gibt, keine willenlosen Fürsten und Stammeshäuptlinge, dann muß man zwangsläufig zu dem Schluß gelangen, daß etwas entstanden ist, das man nicht anders bezeichnen kann als die Regeneration des Islams, das Wiedererwachen des Halbmondes. Die osmanischen Herrscher, die Großherren und Kalifen, in deren Händen die oberste Führung aller mohammedanischen Völker lag, sind für immer in die Vergangenheit eingegangen. Die fortschreitende Lockerung des Souveränitäts- und Suzeränitäts-

Verhältnisses zwischen den verschiedenen islamitischen Völkern und Staaten und dem Großherrn von Stambul, die immer theoretischere Oberhoheit des Kalifen, hat seit der Abschaffung des Sultanates und des Kalifates durch Mustafa Kemal und seit der radikalen Wandlung des theokratischen osmanischen Kaiserreiches in die türkische Laienrepublik zweifellos das Wiedererwachen der islamitischen Welt aufgehalten, ebenso wie die Versuche der Khediven und späteren Könige Aegyptens, das Erbe in der Führung der mohammedanischen Welt anzutreten, mit dem Zusammenbruch der ägyptischen Monarchie ihr Ende gefunden haben. Daß alle diese schwerwiegenden und folgenschweren Ereignisse nur eine Verzögerung, nur ein Aufschieben und kein Aufheben zur Folge hatten, beweist, wie groß die Kräfte des Islams trotz jahrhundertelangen Schiummerns geblieben waren. Die Ankara-Regierung ist aus der Gemeinsamkeit der islamitischen Völker ausgeschieden. Sie nimmt an der gemeinsamen Aktion der arabischen Staaten nicht nur nicht teil, sondern steht in vielen Fragen und bei manchen Gelegenheiten in offener Opposition zu ihr. Sonderbarerweise ist die Türkei ein europäischer Staat geworden, seitdem ihr europäischer Besitz fast zu nichts zusammengeschrumpft ist. Gerade deswegen aber, weil die Türkei aus der islamitischen Gemeinschaft ausgeschieden ist und hiermit auch alle ihre Führungsambitionen, die sonst notgedrungen hätte aufrechterhalten müssen, fallen gelassen hat, ist das Wiedererstehen der islamitischen Gemeinsamkeit erleichtert worden. Gewiß, man kann keinesfalls noch von einem abgeschlossenen Prozeß sprechen. Man kann nur Anfänge feststellen. Aber die praktischen Auswirkungen dieser Anfänge sind so bedeutsam und so folgenschwer, daß man nicht mehr an ihnen vorübergehen kann.

Europas Aufgabe wird es sein, sich ohne jeden Zeitverlust dieser Tatsache bewußt zu werden und die positiven Konsequenzen daraus zu ziehen, mit anderen Worten: in Erkenntnis der Sachlage muß es alles tun, um nicht einen neuen Gegensatz zwischen der nördlichen und der südlichen Küste des Mittelmeerbeckens entstehen zu lassen, sondern aus dem Wiedererwachen der neuen Kräfte, in Anerkennung bestehender Rechte, ohne sich an längst verjährte Prärrogativen zu klammern, die Bündnismöglichkeiten gegen jede feindliche Macht zu schaffen, die die Existenz der europäischen Zivilisation gefährdet. Denn wenn auch die religiösen Gegensätze weiterbestehen, wenn auch religiöse Momente für die arabischen Völker die Basis einer neuen Interessengemeinschaft ergeben, so sollte man doch aus den Jahrhunderten, die zwischen Kreuz und Halbmond vergangen sind, nicht nur die Gegensätze, sondern auch die Gemeinsamkeiten erkennen, die Gemeinsamkeiten von Kulturen, die sich im Krieg und im Frieden gefunden und verflochten haben.

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