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Blick in die „zweite“ Welt
Eugen Kogons „SS-Staat“ hat uns nach dem Krieg erstmalig einen Blick in eine zwangsgesellschaftliche Ordnung machen lassen, die jenseits unserer überkommenen Begriffs- und Vorstellungswelt errichtet wurde, wobei davon ausgegangen wurde, daß es de jure eine Zweiteilung der Menschen gebe, solche mit der Qualität von Personen und Nicht-Personen, Nur-Menschen. Mit dieser Annahme wurde die Rückkehr in vorchristliche Denkweisen vollzogen.
Auch der Verfasser des vorliegenden Buches — der durch viele Jahre in einem sowjetischen Lager gewesen war — will das Ungeheuerliche, das er sehen und erleben mußte, als ein Ganzes und als System verstehen und deuten, wobei die Unterschiede zwischen den großdeutschen und den sowjetrussischen Lagern nur gradueller und klimatisch bedingter Art sind.
Was der Verfasser in Workuta erlebte, war die Gewißheit des Bestehens einer „zweiten Welt“, der Katorga, des russischen vor allem für die „Politischen“ bestimmten Straflagers, das beileibe keine Einrichtung des Kommunismus ist, wie eine selbstgefällige westliche Welt so oft annimmt, sondern bereits von „Väterchen“ Zar eingerichtet worden war.
Im Verlauf seiner Schilderungen, deren Tatsachen ungeheuerlich sind, geht der Autor auch auf die bäuerliche Rebellengruppe der Plotnoi ein. Diese sind eine Gruppe von aus politischen Gründen anarchisch gesinnten und bewußt jede Arbeit ablehnenden Angehörigen des deklassierten Bauernvolkes, eine neue Untergrundbewegung, die aber auch ihren Ursprung im Zarenreich hat und lediglich den Gegner wechselte, ihre Teilmoral aber beibehielt.
Interessant ist, was der Verfasser über die aus den Lagern Entlassenen zu berichten weiß: Ohne Bewußtsein für eine Eigenbestimmung, sind diese Menschen nicht in der Lage, eine Freiheit, deren Wert ihnen sehr fragwürdig geworden ist, für ihr Leben zu verwerten, so daß sie sich oft in die feste Ordnung des. Lagers zurückzusehnen scheinen, in eine
Ordnung, die ihnen kein Problem aufgibt, als jenes, zu überleben
Der zweite Teil des Buches ist nach meiner Meinung mit seinen Meditationen und Zukunftsdeutungen ohne Zusammenhang mit dem Zweck des Buches und fällt sehr stark ab. — Ein ausgezeichneter Erlebnisbericht, der viele Dinge, die sich in der letzten Zeit zugetragen haben, verständlich macht.
Grundzüge der russischen Geschichte. Von Irene N e a n d e r. Hermann-Gentner-Verlag, Darmstadt. 120 Seiten.
Auf engstem Raum einen zuverlässigen und gedankenreichen Führer durch die russische Geschichte zu geben, dem es zudem an eigenem Urteil nicht mangelt und aus dem auf jeder Seite die gründliche Kenntnis der Fachliteratur in russischer und deutscher (weniger in englischer und französischer, gar nicht etwa in polnischer) Sprache herauszufühlen ist, dafür schulden wir der Verfasserin aufrichtigen Dank. Das Büchlein ist gemeinverständlich, ohne üble Konzessionen an den Unterdurchschnittsleser zu machen; es verwendet erfreulicherweise die richtige slawisti-sche Transkription des russischen Alphabets. Es huldigt weder dem verschrobenen Orgiasmus mitläufiger West-Intellektueller, noch der sturen Ablehnung, die, wiederum im für tieferes Eindringen in eine ihm fremde Ostwelt zu faulen Westen, auf einem anderen Sektor der Meinungsmacher üblich ist. Ruhige Sachlichkeit, gestützt auf die Vertrautheit mit dem Gestern und mit dem Heute Rußlands, der Sowjetunion, bestimmen den Ton, die Stoffauswahl, die Würdigungen. Angesichts derartiger Leistung wäre es unbillig, an umstreitbaren Einzelansichten oder auch nur an unbestreitbaren geringen Irrtümern zu mäkeln: Frau Neander ist, in kleinem Format, ein großer Wurf gelungen.
Univ.-Prof. Dr. Otto Forst de Battaglia
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