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Große Szene

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Die großen Ereignisse im Fernsehen sind — derzeit wenigstens — nicht die künstlerischen Produktionen, sondern die Wiedergaben realer Begebenheiten. So erwies sich die mit so viel Reklame angesagte „totale“ Show „Romeo und Julia 1970“ nur insofern als total, als hier die Glanzlichter einer sehr adoleszenten Erlebniswelt, der sehr partielle Traum eines Lesers des letzten Jahrganges einer Jugendst^lillu-strierten Gestalt annahm.1 Eine Welt, die in Frankie Sinatra und Jerry Lewis ihre philosophischen Mentoren erblickt, kann denn doch wohl nicht (bei aller Liebe zu den beiden Künstlern) voll genommen werden. Nichts dagegen, daß die Jugend verschiedentlich zu Wort kommt, doch möge dem nicht die Bedeutung von Totalität eingeräumt werden. So wenn zum Beispiel der junge Handke in seinem „Kaspar“ mit viel radikalem Krampf an Problemen würgt, die Ludwig Wittgenstein in aller Demut und glasklar schon vor fünfzig Jahren in zwei Sätzen formuliert hat: Nur das Unaussprechbare besitzt echten Wert. Die wichtigsten Dinge im Menschenleben sind diejenigen, über die wir nur schweigen können. Nur; das Beschämende an der nach der Aufführung des „Kaspar“ abgehaltenen Diskussion war nicht, daß der jugendliche Autor nichts von Wittgenstein zu wissen schien, sondern daß auch die älteren Herren Diskutanten es nicht wußten. Hierin zeigt sich das Versagen der „erwachsenen“ Generation vor der jungen. Daß die erstere unter faschistischen Diktatoren aufgewachsen ist, bezahlen wir alle jetzt mit einer Diktatur der Minderjährigen, der sich mittelältere Herren in der Haartracht und Kleidung von Teenagern unterwerfen. So, daß

die jungen Leute sich ihrerseits Backen- und Spitzbärte wachsen lassen, damit doch noch etwas Ernsthaftigkeit in die Welt kommt. (Ich mußte mir diese Woche eine Einladung vom ORF zu einem „Teach-in“ bieten lassen, obwohl es dabei um nichts anderes als um eine Besprechung des Programmheftes des ORF für die Presse, also zumeist für Herren geht, die doch wohl über das Alter hinaus sind, in welchem man evnge„teacht“ wird.) Das künstlerische Spiel vermag nicht mehr als Form, als Ganzheit, sondern nur als Trümmerhaufen und Zertrümmerung des ungeglaubten Wortes aufzutreten. Hingegen erlebten wir die große Szene, die wir ehdem bei Shakespeare und Schiller gefunden hatten, zuletzt im Streitgespräch zweier Politiker. Zu Unrecht erblickte ein politischer Rezensent

im Koren-Kreis/cy-Gespräch „nur“ ein Wortgefecht. Wenn sich Leute mit Keulen oder Maschinenpistolen gegenüberstehen, kann sich alles mögliche dahinter verbergen. Wenn zwei Männer, nur mit ihren Prinzipien und ihrer Denkkraft ausgerüstet, gegeneinander streiten, läßt sich nichts dabei verbergen. Ob sie's ■wollen oder nicht, müssen sie sich dabei deklarieren. Hiermit hat das Fernsehen in der Tat etwas neues Tragisches in die Welt gebracht. Ein solches Gespräch kann nicht anders denn bar des falschen Pathos, der Demagogik und des unterstützenden Geheuls der eigenen Parteigenossen im Versammlungssaal oder Parlament geführt werden. Da ist nur der andere und dessen Wort, welches das eigene erzwingt. Wessen

eigene Prinzipien vordem fadenscheinig geworden sind, kann es hier nicht mehr verbergen, sei er auch noch so ein guter Debattierer. Was jedoch — bei aller Politesse und Wahrung der Formen — in der jüngsten Diskussion erschrek-kend sichtbar wurde, das war beträchtlich viel von der Brutalität, welche dem politischen Machtkampf „draußen“ zueigen ist. Und damit trat auch etwas zutage, das uns heute vielleicht am meisten bei den Politikern fehlt: das allen anderen Menschen zugebilligte Privileg, unrecht haben zu dürfen. Wir sollten unsere Politiker um ihrer persönlichen Qualitäten, ihrer Integrität, ihrer Fähigkeit unsere Aspirationen ausdrücken zu können, erwählen — am wenigsten jedoch für die Geschicklichkeit, zu allem ein Alibi bereit zu haben. In der Kriminalistik wird derlei als Verdachtsgrund angesehen. Zur Unverfänglichkeit gehört Unkenntnis oder jedenfalls keine volle Kenntnis, Schwanken, Irrtum. Nur die Hitler hatten immer recht. So daß ich künftigen politischen Diskutanten — übrigens nicht nur vor der Fernsehkamera — nahelegen möchte: Wir erwarten von keinem von ihnen hundertprozentig gültige Lösungen und Rezepte. Wir können und wollen keines von ihm allein erwarten, sondern nur aus dem Gespräch mit den übrigen. Demokratie ist ein Konglomerat und die Essenz verschiedenster geistiger, materieller und sozialer Impulse und Aspirationen. Und ich meine nicht, daß dabei vor allem der Ausgleich und die Applanierung von gegensätzlichen Interessen wichtig ist, sondern die bewußt gemeinsame Bemühung um Wahrheit, zu deren Zustandekommen es freilich auch der subjektiven Meinungen und Standpunkte bedarf. Es möge ihnen nur nicht ein Anspruch auf unverrückbare Objektivität verliehen werden. Auch das Nichtrechthaben muß gelernt werden..

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