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Selbstzerstörung der Demokratie?

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In dein Ursprungsländern der parlamentarischen Demokratie, dm angelsächsischen Raum, kommen alarmierende Ereignisse auf. In Großbritannien sind terroristische Nationalisten am Werk, um mit Methoden, die man vor 1914 bal-kanesiische nannte, dien Thronfolger aus idem Weg zu räumen; in Nordirland bekämpfen sich Protestanten und Katholiken mit Methoden, die in Mitteleuropa seit dem 30jährigen Krieg unerhört und ein Skandalum inmitten der ökumenischen Bestrebungen der Christen sind; und in den Rissen, die im einstmals weltumspannenden Empire entstehen, dringt ein Meinkarierter Spätnationalismus sektiererischer Waliser und Schotten an die Oberfläche.

Bedrohlicher noch ist die außerparlamentarische Opposition, besser gesagt die kontra-parlamentarische Destruktion, die von der Neuen Linken in den USA und in Großbritannien inszeniert worden ist. Herbert Marcuse, der längst in patriarchalischem Lebensalter stehende Prophet der Neuen Linken, vergleicht die in der freien Welt des Westens bestehende Ordnung mit der in einem Zuchthaus gehandhabten und fährt wörtlich fort: Wenn man an die Stelle eines Gefängnisses ein Wohnhaus bauen will, muß man in der Tat das Gefängnis demolieren, sonst kann man das Wohnhaus nicht einmal zu bauen anfangen. Marcuse sieht keinen Grund dafür, mit diesem Akt der Seibstzerstörung zu zögern, wenngleich er einräumen muß, daß „es schwierig ist, gegen ein System anzukämpfen, das an sich in Ordnung ist“.

Zerschlagenes Porzellan _=

Eine bestehende Ordnung, ein Establishment, um im Zeitjargon zu reden, zerfällt nicht nur unter den Schlägen einer revolutionären Bewegung; das Establishment zerschlägt zuweilen selbst sein Porzellan. Die amerikanische Historikerin Virginia Cowles brachte kürzlich eine lebendige Beschreibung des Abschieds einer früheren Epoche heraus. Darin findet sich die photographiische Dokumentation einer bemerkenswerten Abendunterhaltung, die im Jahre 1913 im Hause der superrei-chen amerikanischen Vanderbildts stattgefunden hat. Den Damen im Abendkleid und den Herren im Frack werden von livrierten Dienern kostbare Stücke Nymphenbunger und Kopenhagener Porzellan gereicht. Das Hobby der Gastgeber und ihrer Gäste besteht darin, das Porzellan an die Wand zu schmeißen und dabei womöglich die dort hängenden Nippsachen zu zerteppern.

Im kleinen österreichischen Wirtschaftswunder wachsen keine Vanderbildts, und nicht immer haben die Österreicher nach 1945 so gut Politik gemacht, wie es die Vanderbildts verstanden haben, to makemoney. Dafür haben nicht wenige Neureiche ex 1945 ff. eine makabre Unkultur aufgezogen, die den Vergleich mit jenem der Vanderbildts hält und der gegenüber die naive Imitationssucht der legendären Frau von Polak ex 1919 ff. ein Akt rührender kultureller Betulichkeit gewesen ist. Unter uns ist nicht der ganze Reichtum des Industriesystems der freien Welt des Westens. Dafür aber die nämliche Mentalität.

Die Österreicher existieren an einem Punkt der Erdoberfläche, wo in „ruhigen und geordneten Zeitver-hältn'issen“ das Leben mäßig bewegt und zuweilen recht zähflüssig verläuft. Anderseits ist es bekannt, daß Katastrophen, die den ganzen Kontinent und die Menschheit treffen, oft gerade im Umkreis dieses Punktes ihren Ausgang nehmen. In der Spätkrise, die wir jetzt mitmachen, stehen sich die „Revolutionären von oben“ und die „Revolutionären von unten“ wieder einmal an einer Weggabelung gegenüber. Die Frage ist, ob es in Österreich noch einmal

maria-theresianisch - oder josephi-nisch oder leopoldinisch zugehen wird oder ob die letzte; Welle der Revolution von: 1789 auch hierzulande über die Dämme schlägt, wie dies nicht wenige Intellektuelle brennend erwarten.

Der Nachf olger

Vorläufig wird der Aufruhr geprobt; das Porzellan aber wird schon zerschlagen:

In der ersten staatstragenden Partei .wird, als Nachfolger auf dem Parla-mentssditz des demissionierten Urater-richtsministers Theodor Piffl-Perce-vic der Sohn des amtierenden Landeshauptmannes der Steiermark vorgeschlagen; ein Kandidat; der punkte Herkunft und Anschauung,1 Ausbildung und Praxis die besten Voraus-setzumgen für die erfolgreiche Kandidatur um ein Nationalratomandat mit sich bringt. Bisher hat er aber noch nicht kandidiert, und also sollte er ohne vorherige Kandidatur mit Hilfe einer Vorschrift zu dem Mandat kommen, die während der Besatzungsära für den Fall gedacht war, daß es sich als notwendig erweisen sollte, ein durch ein Besatzungsmacht dezimiertes Parlament durch die Einberufung nicht gewählter Ersatzkandidaten zu komplettieren. So geschah es, daß man mit gutem Porzellan mehr zerschlagen hat als parlamentarische Nippsachen an der Wand (obwohl die fragliche Kandidatur schließlich zurückgezogen worden ist).,

Der Fall Olah

Im Wiener Gemeinderat wird Franz Olah exmittiert. Mag die rechtliche Fundierung der zu diesem Zweck herangezogenen' -Vorscrfh'ff Ge-

schäftS!ordnunig diskutabel sein; im Augenblick des Konflikts war sie geltendes Recht und wird es. bleiben, bis eventuell der Verfassungsge-ricihtshof anders befinden wird.. Der von der schockierenden Maßnahme Betroffene besitzt eine lange Liste hoher und höchster staatlicher und anderer Punktionen, die er früher bekleidet, hat: Präsident ' des Nationalrates, Bundesminister für Inneres, Präsident des österreichischen Gewerkschaftsbundes und so weiter. Mag der Einwand gelten, daß die Handhabung der Autorität um so schleißiger wird, je.mehr der Autoritätsträger dabei auf Polizisten, Saaldiener, Pedellen und Kirchendiener angewiesen ist; ein einstiger Bundesminister geht aber jedenfalls fehl, wenn 'er es auf Handgreiflichkeiten mit „Außi-schmeißern“ ankommen läßt.

Es ist etwas anderes, ob ein Bundeskanzler in Gewärtdigung der anrol-. lenden Aufrührer in der Stellung bleibt und im Feuer seiner Feinde fällt, oder ob das parlamentarische Ritual auf den nachmitte'rnächt-lichen Standard einer Bderwirtschaft gesenkt wird. Wenn dermaßen Porzellan zerschlagen wird, dann ist auch um geringere Qualitäten, als es die aus Nymphenburg und Kopenhagen sind, schade.

Am Morgen des 4. März 1933

Welcher Christlich-Soziale, Sozialdemokrat, Großdeutsche, Landbünd-ler oder Heimatblöckler hat am Morgen des 4. März 1933 geahnt, daß ab diesem Tag für zwölf Jahre die parlamentarische Demokratie in Österreich abgeschafft sein werde? Der Anlaß des Konflikts, aus dem sich- die -sogenannte “Selbslaüsschal-

tuhig des Parlaments in Österreich ergeben hat, war im Vergleich zu den tatsächlichen Folgen unbedeutend. Es kämpften an diesem Tag nicht Schutzbündler mit Heimatschützern, sondern gut demokratisch gesinnte Abgeordnete der bürgerlichen Regie-rungskoalition mit Sozialdemokraten vom Schlage Renner; es war ein parlamentarischer Streit der Regierung mit der Opposition wegen der Anwendung des Streikrechts. Adolf Schärf, später Vizekanzler und Bundespräsident der Zweiten Republik, beschreibt in „Österreichs Erneuerung 1945 bis 1955“, wie ihn an diesem Tage eine gar nicht autorisierte Gruppe der Parteispitze der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei be-

auftragte, dem Präsidenten, des Nationalrates Karl Renner auszurichten, er möge unverzüglich demissionieren und zu seiner Fraktion einrücken, wodurch bekanntlich das Verhängnis ausgelöst wurde. Und Schärf schließt: „Es ist wahrscheinlich, daß die Entwicklung Österreichs ohne die Niederlegung der Präsidentenwürde am 4. März 1933 eine völlig andere gewesen wäre... der normale Ablauf der Ereignisse ist dadurch gestört worden, daß einzelne wenige Fersomen wichtige Entscheidungen trafen, ohne daß sie im Augenblick die Folgen übersahen.“

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