Wer träumt noch von Europa?

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Es gibt sie noch, diese ausführlicheren Weihnachtsbriefe - wahre Fundstücke der Nachdenklichkeit über den Gang unserer Zeit. In einem davon habe ich von einer Konferenz gelesen, zu der eine belgische Zeitung kürzlich eine Schar bekannter und unbekannter Bürger geladen hatte. Das Thema: "Mein Traum von Europa". Immerhin: in wenigen Monaten wird EU-Europa -380 Millionen Wahlberechtigte! - zu den Urnen gerufen.

Die nüchterne Bilanz der Konferenz: Diesen Traum gibt es nicht - jedenfalls nicht in Belgien. Und in Österreich? Wer hätte hier eine andere Antwort?

Flüchtlinge aus Afghanistan oder Syrien wüssten wohl eine, schreibt mein Brieffreund: "ein sicheres Zuhause für unsere Kinder und uns". Und auch auf den schwankenden Booten im Mittelmeer würde den Verzweifelten aus Afrika die Antwort leicht fallen: "ein besseres Leben -nicht nur ein Stück Brot am Tag".

Uns Europäern aber sind die Träume abhanden gekommen? Warum? Weil wir in den vergangenen Jahrzehnten miterlebt haben, wie unsere Träume von Sicherheit und Wohlstand mehr und mehr in Erfüllung gegangen sind. Weil wir satte, vom Schicksal verwöhnte Menschen geworden sind. Gottseidank.

Das Problem ist nur, dass dieses Europa, das nach wie vor auf dem Weg ist, ein fortgesetztes Träumen braucht: neue Ziele ebenso wie Selbstzweifel zur Korrektur des Erreichten. Perspektiven, die aus der Erfahrung wachsen. Noch nie in der Geschichte hat ein so riesiges, so bürgernahes Experiment einen solchen Schatz an Erkenntnissen über Wege und Irrwege gesammelt.

Kann es da ausreichen, den Ist-Zustand als naturgegeben zu akzeptieren? Oder, noch schlimmer, dieses unfertige Europa als Sündenbock für 1001 Schwächen nationaler und internationaler Tagespolitik in die politische Wüste zu treiben?

Ziele jenseits von Markt und Macht

Die Frage nach den Träumen wird nicht nur über die kommende Europawahl (bei uns am 25. Mai) entscheiden. Österreich ist das einzige Land der EU, in dem bereits 16-Jährige ein Wahlrecht haben. Eine ganz neue Generation, die mit den alten Erfolgen Europas (Frieden, offene Grenzen) keinen Auftrag mehr verbindet. Die von ihren Eltern kaum europäische Unterluft bekommt (46 Prozent der jungen Österreicher wissen gar nicht, dass das Europäische Parlament direkt gewählt wird). Die aber aus all dem, was da jetzt auf sie zurollt -an Slogans, an Streit und Niedermachung, an Visionen -ihr künftiges Welt-,Europa- und Politikverständnis prägen wird.

"Mein Traum von Europa": Gewinnen werden -auch über diese Wahl hinaus - jene Personen und Parteien, die darauf Antworten wissen. Die noch Ziele und Erwartungen haben - jenseits von Markt und Macht. Zugegeben eine enorm schwierige Aufgabe, denn im Werden definiert sich auch Europas Identität immer neu. Aber das ist zugleich das Einmalige: Noch nie war eine Großbaustelle der Geschichte so mitgestaltbar -und auf Träume angewiesen.

"Kann es ausreichen, den Ist-Zustand als naturgegeben zu akzeptieren? Oder, noch schlimmer, dieses unfertige Europa als Sündenbock in die politische Wüste zu treiben?"

Heinz Nußbaumer |

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