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„NEUESTHOCHDEUTSCH“

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Panta rhei — alles fließt. Das Wort des griechischen Philosophen hat auch im Bereich der sprachlichen Ausdrucksmittel seine Gültigkeit. Alles ist in ständigem Flusse. Die Sprache ist in fortwährender Umbildung begriffen. Sie lebt. Sie erneuert sich, entwickelt sich, reinigt sich, nimmt auf, entlehnt, bildet um, stößt ab. Aus dem Althochdeutschen wurde das Mittelhochdeutsch, aus dem Mittelhochdeutschen bildete sich das Neuhochdeutsch heraus, und aus diesem Neuhochdeutsch ist — was im Werden begriffen?

Was heute zwischen Schleswig-Holstein und den Karawanken gesprochen, vielmehr aber geschrieben wird, fällt nach Ansicht von führenden Germanisten nicht mehr unter den wissenschaftlichen Begriff des Neuhochdeutschen, das einst mit der „vom Maul“ der Leute abgeschauten Sprache Martin Luthers begonnen und in der Sprache Goethes wohl seinen Höhepunkt erreicht hat. Auf der letzten Jahrestagung des Instituts für deutsche Sprache in Mannheim unternahm Professor Egger aus Saarbrücken den Versuch, den Beginn der deutschen Sprache der Gegenwart zu datieren. Seiner Meinung nach ergebe das Jahr 1871 eine deutliche Zäsur, weil die damaligen politischen Ereignisse, im besonderen das aus dieser Zeit stammende Freizügigkeitsgesetz, den Weg für einen stürmisch einsetzenden Sprachwandel freigemacht hätten. Die führenden Gelehrten waren übereinstimmend der Ansicht, daß vor allem die Industriegesellschaft, der moderne Verwaltungsapparat und die Kommunikationsmittel, und hier besonders die Presse, die entscheidenden Fermente der deutschen Sprache der Gegenwart seien.

Worin unterscheidet sich nun das heutige, im Entstehen begriffene „Neuesthochdeutsch“ vom bereits „veralteten“ Neuhochdeutsch? Sprachwissenschaftler haben mit Hilfe von Computern etwa 50.000 Sätze, die dem modernen Zeitungsdeutsch entnommen worden sind, unter anderem auf ihre Wortzahl hin untersucht. Die ermittelten Werte ergaben, daß der Fachmann in seinen an die breite Öffentlichkeit gerichteten Publikationen Sätze mit durchschnittlich 16 Wörtern bildet, während der „gute Journalist“' 13 bis 14 aufwendet. Der Germanist Professor Egger unterließ es allerdings nicht, nachdrücklichst vor dem gefährlichen Trugschluß zu warnen, daß jener Journalist der bessere sei, welcher die kürzeren Sätze fabriziere. Sozusagen als Unterstreichung dieser Warnung wurde dazu noch — ohne weiteren Kommentar — vermerkt, daß heutzutage ein Boulevardblatt im Durchschnitt für einen Satz fünf Wörter verbrauche.

Diese Extremwerte beleuchten schlagartig die allgemeine Tendenz der heutigen Sprache: Die Sätze sind kürzer, der Satzbau ist einfacher geworden als sie es zu der Zeit waren, als etwa die „Iphigenie“ geschrieben worden ist. Nicht selten sind Sinnverkürzungen und Entleerungen festzustellen, vielfach arbeitet die Sprache heute nur noch mit Abkürzungen und Chiffrierungen (UNO, Pkw, km h) und zeugt von einer babylonischen Lieblosigkeit in ihrer Behandlung, aber auch von einer wachsenden Verwirrung, die eine Fortführung in diese Richtung unweigerlich mit sich brächte.

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