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Digital In Arbeit

Aufruf zur Solidarität

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Wir stehen in einer schwierigen Zeit unserer wirtschaftlichen, aber auch unserer gesamten gesellschaftlichen Entwicklung. Nach den Jahren des ständigen Mehrens des Wohlstandes fragen sich heute viele Menschen, ob alles, was vielleicht etwas vorschnell als Fortschritt verstanden und bezeichnet wurde, wirklich dem Menschen diente, seine Zufriedenheit gefördert hat.

Solchen Fragen müssen wir uns

ehrlich stellen. Wir erleben es doch sehr deutlich, wie der „Fortschritt“ auf dem Gebiete der Automatisierung Unsicherheit über viele Menschen bringt. Arbeitsplätze gehen verloren, werden wegrationalisiert. Die damit verbundenen Probleme haben wir jedenfalls noch nicht gelöst.

Es sieht so aus, als bewegten wir uns auf eine entscheidende Wende zu. Die Forderung nach Humanisierung der Arbeitswelt kann sich nicht mehr allein darauf beschränken, bessere Arbeitsbedingungen zu schaffen. Sie muß alle die anderen Fragen mit einschließen, die die Menschen im Arbeitsprozeß bewegen und belasten.

Viele Mitbürger erleben es schmerzlich, was es heißt, ohne Arbeit zu sein. Vor allem für die Jugendlichen ist dies eine völlig neue und bedrückende Situation. Der Hinweis darauf, daß die Situation in den Ländern der Dritten Welt noch um vieles schlimmer ist, hilft dem einzelnen wenig, sondern zeigt nur ein weitergreifendes Problem.

Die Solidarität wird auf eine harte Probe gestellt. Die Solidarität derjenigen, die Arbeit haben, mit denen, die ohne Arbeit sind. Ist es so abwegig, darüber nachzudenken, ob nicht vielleicht doch die „Privilegierten“, die Arbeitenden, auf einen Teü des Zuwachses verzichten müssen, um andere teilhaben zu lassen an dem knapp gewordenen Gut der Arbeit? Der Verteilungskampf in unserer Gesellschaft darf nicht dazu führen, daß die Schwächeren auf der Strecke bleiben.

In dieser entscheidenden Frage müssen alle gesellschaftlichen Gruppen zusammenarbeiten. Die Kirche hat nicht die Möglichkeit, im Hinblick auf die Uberwindung der Arbeitslosigkeit unmittelbar auf die Wirtschaftspolitik, die Konjunkturpolitik und die Währungspolitik einzuwirken. Die Kirche appelliert an das Gewissen der Verantwortlichen. Seit dem Beginn des industriellen Zeitalters brachen immer wieder Konjunkturkrisen herein,

die Millionen von Arbeitern und ihre Familien in Not stürzten, obwohl der Bedarf an Gütern überaus groß war und obwohl es nicht an arbeitswilligen Menschen fehlte. Die katholische Soziallehre zieht daraus die Folgerung, daß der Automatismus des Wettbewerbes für sich allein kein Ausweg ist, daß vielmehr eine am allgemeinen Wohl orientierte staatliche Konjunkturpolitik erforderlich ist.

Darüber hinaus ruft die Kirche zur Solidarität zwischen den gesellschaftlichen Gruppen in unserem Volk und auch zur internationalen Solidarität zwischen den Industriestaaten und den Ländern der Dritten Welt, zwischen den ölländern und den auf das öl angewiesenen Staaten auf.

Sicher gibt es zwischen der katholischen Kirche und den Gewerkschaften strittige Punkte und manche Kontroversen, vor allem dann, wenn Christen sich durch Entscheidungen oder Äußerungen in ihrem Gewissen oder in ihrer religiösen Uberzeugung betroffen fühlen. Aber über alle Differenzen hinweg muß die Mitverantwortung für das Ganze gesehen werden. Das Ja zu unserem Staat, und die Bereitschaft, in Solidarität für die Menschen in Not einzutreten, ist heute vielleicht stärker gefordert als in früheren Zeiten.

(Aus der Grußbotschaft des Erzbi-schofs von Köln, Kardinal Josef Höfner, an den Bundeskongress des Deutschen Gewerkschaftsbundes.)

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