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Das Erzählen geht weiter...

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Ganz gegen die momentan vorherrschende „Irinerlichkeitsliteratur“, wie Jörg Drews die gegenwärtige deutsche Literaturszene treffend charakterisiert, scheint Jürg Läderachs Ro-'man „Im Verlauf einer langen Erinnerung“ konzipiert zu sein. Läderach knüpft rein formal an die Sprachexperimente der sechziger Jahre an, ohne sie jedoch zu imitieren. Er stellt sie in Frage, mißtraut der Sprache, den klassischen Erzählstrukturen, der herkömmlichen Form des Fabulierens.

Läderach möchte eingefahrene Schemata aufreißen. So hegt seinem Roman auch ein ausgeklügelter Aufbau zugrunde, er zerfällt gewissermaßen in fünf Teile, die zwar aufeinander abgestimmt sind, sprachlich und inhaltlich jedoch eigene, ganz spezifische Charakteristika aufweisen. Fünf autonome Abschnitte fügen sich zu einem Ganzen.

Die Handlung erfüllt nur vordergründige Funktion; Läderach geht es vielmehr darum, Möglichkeiten aufzuzeigen, Vermutungen anzustellen über eine Figur, die „mit der Sprache leben muß“. Gleich zu Beginn des Romans führt der Autor drei Figuren ein, einen gewissen Keener, Lola und Läderach. „Mein Stachel ist, daß ich heißen muß. Nenn mich also bedingungslos Läderach. Zehn Minuten lang bin ich er.“ Läderach führt sich also selbst ein, nicht im klassischen Sinn, sondern er distanziert sich von seiner Geschichte, seiner Person. Ein Hauch von Gantenbein. Das Ich wird zum Er, der Autor zu einem Objekt.

Im zweiten Teil des Romans steht Keener im Mittelpunkt. Er nennt sich Joseph und erzählt einen Traum, oder besser gesagt, die Vorstellung von einem Alptraum. Er sieht sich nämlich als Insasse eines Krankenasyls und berichtet mit Schrecken von den dort herrschenden Zuständen. Eine Fiktion, die beklemmende Züge der Realität annimmt. Läderachs Sprache wird hier knapp, sachlich, er beobachtet präzise.

Der dritte Abschnitt behandelt eine Englandreise Keeners, der vom Geheimdienst verfolgt wird, oder sich verfolgt glaubt - und liquidiert werden soll. Keener entgeht dem Anschlag, ein Unschuldiger wird umgebracht. Lä-derach gelingt es gerade bei dieser Schilderung sehr gut, den Leser im Unklaren zu lassen, ob Keener wirklich verfolgt wird oder sich das „Abenteuer“ nur einbildet. Ein Seiltanz zwischen Fiktion und Wirklichkeit, zwischen Verfolgungswahn und wirklicher Angst: „Auf seinem Hemd sah Keener den roten länglichen Blut-Heck, den das ihm zum Mund herauskommende Brut auf-sein Hemd zeichnete. Betritt sie das Abteil, hörte die Stimme aus Angst auf, alles erschreckt in diesem Zustand die arme dünne Stimme, dachte es in Keener. Das Blut, sein Gut, auf dem Boden.“

Der vierte Teil des Buches zeigt Keener erblindet und als Patienten eines Psychotherapeuten. Die bisher verdrängten Ängste und Probleme brechen auf. Doch eine furchtbare Naturkatastrophe beendet Keeners Heilungsprozeß. Im fünften Abschnitt zieht sich Keener nach Wien zurück, legt sich den Vornamen Sigmund zu (ohne Zweifel eine Anspielung auf Sigmund Freud) und eröffnet eine eigene psychiatrische Praxis. Doch die Patienten bleiben aus und Sigmund isoliert sich in seinem Behandlungszimmer, redet nur noch vor sich hin, stammelt unzusammenhängende Worte. Lola, die Begleiterin Keeners, übernimmt die Erzählerrolle.

„Im Verlauf einer langen Erinnerung“ ist ein Experiment. Läderach jongliert mit verschiedenen Stilmitteln - manchmal beschreibt er fast naturalistisch exakt, dann setzt er Charakteristika des Kriminalromans ein, experimentiert formal mit Sprache, zerstört die Syntax -, mit Personen, die er Identitäten wechseln läßt, bis sie ihre Identität verlieren und nur noch inhaltsleere Sprechblasen von sich geben.

Sprache erscheint als abstraktes System, als System des Erzählens, das über die Individuen herrscht. Läder-ach vermittelt den Prozeß einer sich verselbständigenden Kommunikation; die Sprache selbst ist unzerstörbar, das sprechende Subjekt wird zerstört. Das Ich wird zum austauschbaren Objekt, zur entpersonalisierten Biographie. Genauso bietet sich auch das Ende des Romans dar: Eine Sprachlawine, losgelöst von den Empfindungen der Figuren, eine Aneinanderreihung von isolierten Assoziationen. Das Erzählen geht immer weiter, unzerstörbar - auch ohne den Erzähler.

Es ist ein Roman, der sich permanent in Frage stellt, die gesamte formalsprachliche Variationsbreite ausspielt, sich selbst reflektiert. Läderach schafft immer wieder neue Erzähleinheiten, die er dann wieder aufgibt - ein schwierig zu lesendes Buch, ein anstrengendes Buch, doch ein sehr bewußtes, kritisches Buch. Der Versuch, durch Sprachkritik Gesellschaftskritik zu betreiben.

IM VERLAUF EINER LANGEN ERINNERUNG, von Jürg Läderach, Verlag Suhrkamp, Frankfurt/M. 1977, 250 Seiten, öS 184,80.

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