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Der Walfänger am Ruder

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Die für norwegische Verhältnisse endlos erscheinende Regierungskrise endete mit der Übergabe der Regierungsmacht an den Führer der Arbeiterpartei Trygve Bratteli. Das ist ein Resultat, das die vier bürgerlichen Parteien nach dem Zerfall ihrer Koalition gegen Ende Februar auch unter Wahrung ihrer Selbstachtung und eines Mindestmaßes an politischer Einigkeit hätten haben können. Kompromittiert , erscheint vor allem der Gedanke einer bürgerlichen Zusammenarbeit gegen die Sozialdemokratie.

Die Meinungsverschiedenheiten in den Fragen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft erwiesen sich als zu groß, die Verbitterung und das gegenseitige Mißtrauen hatten einen so hohen Grad erreicht, daß alle Versuche, der Viererkoalition neues Leben einzublasen, mißglücken mußten. Der letzte Akt, als die Vertreter aller bürgerlichen Parteien erst den Führer der Christlichen Volkspartei, Kjell Bondevik, aufforderten, die Regierungsbildung zu übernehmen, dann aber die Zentrumspartei ihn im Stich ließ, war ein beklemmendes Schauspiel. Dieses wenig erhebende taktische Manöver wurde in der norwegischen Presse mit Worten verurteilt, wie man sie bisher hier nicht gewöhnt war.

In Oslo und bei den Nachbarn Norwegens im Norden herrscht heute die Meinung vor, daß Trygve Bratteli, der sich nur auf eine Minderheit von 74 Mandaten im Parlament stützen kann, recht lange am Ruder bleiben wird, jedenfalls so lange, wie es die Arbeiterpartei selbst wünscht.. Die Hauptaufgabe der neuen Regierung wird es sein, die Verhandlungen über den EWG-Anschluß Norwegens zu einem Ende zu führen. Offiziell bezeichnet man immer noch die Erreichung der Vollmitgliedschaft als das eigentliche Ziel der norwegischen Politik, schließt jedoch nicht mehr aus, daß es auch zu einer lockeren Forma des Anschlusses kommen könnte.

Die große Mehrheit der Parlamentsmitglieder wünscht die Vollmitglied- schaft, die Arbeiterpartei, die sehr stark für die Erreichung dieses Zieles eingesetzt hat, kann dabei jederzeit mit der Unterstützung der 29 Konservativen und der 13 Liberalen rechnen.

Anti-EWG-Sammelbecken

Allerdings können diese drei Parteien nicht darüber hinwegsehen, daß die Zentrumspartei zum Sammelbecken aller jener geworden ist, die gegen den „Verkauf Norwegens an fremde Mächte” protestieren. Doch auch innerhalb der Arbeiterpartei gibt es Gegner eines EWG- Anschlusses. Daß einer der Stellvertreter Brattelis in der Arbeiterpartei, Thorbjöm Bemtzen, in der Leitung der „Volksbewegung gegen den EWG-Anschluß” mitarbeitet, ist jedenfalls auch für Bratteli ein W arnungszeichen.

Diese „Volksbewegung” kann sich heute auf eine Organisation mit 30.000 Mitgliedern stützen und wird auch vom Zentralverband der Landwirtschaft unterstützt. Bratteli wird darauf achten müssen, daß jener Bazillus der Spaltung, der die bürgerliche Koalition zu Fall gebracht hat, nicht auch in den Reihen der

Arbeiterpartei zu wirkenbeginnt.

Nachdem es nun klar ist, daß Schweden nicht mehr mit einer Vollmitgliedschaft in der EWG rechnet, wird es schwer sein, eine Mehrheit des Volkes davon zu überzeugen, daß das Heil Norwegens in einer totalen Unterordnung unter das Brüsseler Wirtschaftszentrum liegt.

Mann der alten Schule

Trygve Bratteli ist 61 Jahre alt und ein Arbeiterführer der alten Schule, der von der Pike auf gedient hat. Aus bescheidensten Verhältnissen stammend, erkämpfte er sich die hervorragendsten Posten in der Partei und im Staat. Er war Laufbursche, Mitglied der Mannschaft auf einem Walfänger, Hilfsarbeiter und Dachdecker. Uber die Redaktion einer sozialdemokratischen Zeitung und die Verbandsleitung des sozialdemokratischen Jugendiverbandes gelangte er in die Führungsspitze der Arbeiterpartei. Als Zimmermann in Kristiansand war er Leiter einer Widerstands- gruppe, wurde 1942 verhaftet und in ein Konzentrationslager gebracht. Nach drei schweren Jahren wurde er von der Hilfsaktion des schwedischen Grafen Bemadatte aus dem KZ befreit. Anfang der • fünfziger Jahre wurde Bratteli Mitglied der Regierung Gerhardsen, der er durch sieben Jahre auch als Fmanzminister angehörte. 1965 übernahm, er die Leitung der Arbeiterpartei und mußte im selben Jahr eine schwere Wahlniederlage hinnehmen, die eine bürgerliche Regierung unter Per Borten ans Ruder brachte.

Der bescheidene, unauffällige und leidenschaftslos erscheinende Mann ist kein mitreißender Voiksredner, seine Ansprachen sind nüchtern und monoton, man sagt ihm jedoch nach, daß er sich in erstaunlich kurzer Zeit auch mit schweren Themen vertraut macht und bei der Lösung schwieriger Probleme großes Geschick entwickelt Der Mann, der in den Stürmen des Atlantik und in den Lagern des Dritten Reiches seine Lehrjahre verbracht hat, ist zweifellos keine blendende Erscheinung, doch könnte er sich als jener geschickte Steuermann erweisen, der Norwegens Regierungsschiff aus dem unsicheren Kurs in ein ruhigeres Fahrwasser führen kann.

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