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Die Avantgarde, die kommen muß

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Daß wir an einem Wendepunkt unserer Zivilisation stehen, die zu einer Bescheidung des Menschen führen wird, ist wohl unzweifelhaft. Für eine Tendenzwende in der Literatur aber sind die Anzeichen noch wenig überzeugend. Und wohin sollte sie auch weisen, solange sie auf dem Patentrecht ihrer Sprachrezepte beharrt? Wo fänden sie nach dem „Kahlschlag” Orientierungspunkte?

In seiner Innsbrucker Universitätsvorlesung aus dem Jahre 1984, die nun als Studie vorliegt, stellt sich Ernst Schönwiese in den Dienst der Suchenden und Fragenden, der Avantgarde von morgen, welche die Wende vollziehen wird. Schönwiese zeigt ihr die Anknüpfungspunkte vor allem in der österreichischen Moderne bei Robert Musil, Hermann Broch, Elias Canetti und Jean Amery. Unbeschadet der Verschiedenheit ihrer Temperamente und stilistischen Methoden haben diese Autoren doch ein Gemeinsames und Zukunftsweisendes, insofern es ihr Werk nicht dabei bewenden läßt, das kritische Bewußtsein zu schärfen und denkerische bzw. gesellschaftliche Konventionen zu überschreiten. Das eigentliche Ziel ihres Schaffens liegt vielmehr darin, über das täglich sich verändernde und daher immer wieder fraglich werdende Wissen hinauszugelangen.

In diesem Streben trifft sich ihr Werk mit den Kräften, die in allen Religionen wirksam sind und ihre Konvergenz in einem einzigen Zielpunkt bedingen. Somit wird Dichtung zu einer Parallelaktion der „Re-ligio”, der Rückbindung an das Urwissen, in dem ehemals in den religionsstiftenden Texten der Völker Religion und Poesie bereits vereint gewesen sind. Nun ereignet sich diese Wiedervereinigung beider in Robert Musils „anderem Zustand”, in Martin Bubers „intuitiver Identifikation mit dem Du” oder in Elias Canet-tis „Leidenschaft der Verwandlung”. Diese Heimkehr in das Herz schafft die Voraussetzungen dafür, daß das Wort den Urzustand des Erlebnisses zu vermitteln vermag, ohne gedanklich befrachtet oder ideologisch deformiert zu werden.

Ernst Schönwiese gelingt es, diesen durch Zitate exakt belegten Diskurs in ein Erlebnis zu verwandeln, hat doch sein eigenes Leben und Schaffen das Zusammenfallen von Religion und Poesie zum Ziel. Seine Worte der sachlichen Mitteilung öffnen sich immer wieder den Worten der Gestaltung und Beschwörung. Denn der zivilisatorischen Integration des Planeten muß die Begegnung der Kulturen und ihrer Religionen folgen. Solche Begegnung kann aber nicht unter der Flagge standardisierter Pseudo-Wahr-heit erreicht werden. Auch das obligatorische „Dagegen-Sein” in der zeitgenössischen Literatur des Westens führt nur dazu, daß alle „letzterdings dasselbe sagen” (Werner Kraft), eine völlig untaugliche, überdies lokal beschränkte Konformität, die nur aus der Zone vordergründiger Vernünftigkeit, keineswegs aber aus dem Erleben des Einen stammt.

Was heute dringend notwendig wäre, ist, die ungeschiedene Wirklichkeit zu vermitteln, eine Aufgabe, welche der echten Dichtung schon immer vorbehalten gewesen ist. Sobald aber die Literatur anstatt das Leben zu beschwören tendenziöse Kräfteparallelogramme konstruiert, verrät und verfehlt sie die Totalität, deren Organ sie sein sollte. ^Die Urerfahrungen weisen über solche zeitbedingte Konstruktionen weit hinaus. Sie ins Bewußtsein zu heben, ist Auftrag der Dichtung, der aber, wie Ernst Schönwiese immer wieder betont, ohne den „vereinenden Seelenzu-stand”, das „Religiöse an sich”, nicht zu bewältigen ist.

DICHTUNG ALS URWISSEN DES MENSCHEN. Von Ernst Schönwiese. Institut für Germanistik der Universität Innsbruck 1985. 67 Seiten, kart., öS 120,-.

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