6569051-1950_11_05.jpg
Digital In Arbeit

Stille vor dem Sturm

Werbung
Werbung
Werbung

Hans Zehrer hat schon früher einmal zu den bedeutenden deutschen Publizisten gehört. Sein „Tatkreis“ war zu Beginn der dreißiger Jahre nicht wegzudenken unter jenen Kräften, die die deutsche Lage aus einer nationalen Besinnung zu bessern hofften. Mit nationalsozialistischem Ungeist hatte das wenig zu tun, und es dauerte auch nicht lang, bis die PGs das begriffen, was Zehrer nicht zu verschleiern suchte. Dieser kam dann in enge Verbindung mit dem „sozialen General“ Schleicher und gewann damit aktiven Einfluß auf die deutsche Politik. Das Zwischenspiel war jedoch kurz genug; doch hatte Zehrer Glück; nach des Generals Ermordung im Juni 1934 vergaß man ihn. Er zog die Konsequenzen und ging in die Stille, nach Sylt, und dachte nach über die Zeit. Er tat es gründlich, ging auf die Quellen zurück, las Augustin und die großen christlichen Denker. Das machte ihn fähig, unsere Situation jenseits aller Willkür, „im Ernst der letzten Dinge“ zu betrachten und zu interpretieren.

Die Ergebnisse liegen jetzt vor in „Aufsitzen zur Zeit“, ursprünglich erschienen im Hamburger „Sonntagsblatt“, für das Bischof Lilje zeichnet, und neuerdings zusammengetragen in dem Band „Stille vor dem Sturm“ (Verlag E. Rowohlt, Hamburg, Stuttgart 1949). !n diesem schmalen Band wird nicht mehr und nicht weniger versucht, als eine Analyse und Deutung unserer Lage — der menschlichen schlechthin und der des abendländischen Menschen im besonderen — vom Blickpunkt des bewußten Christen; eines Christen aber, der nicht mehr sprechen kann aus der Mitte der christlichen Kultur, die nicht mehr besteht — denn auch das Christentum ist nicht unversehrt geblieben von den Schlacken der allgemeinen Entwicklung —, sondern aus der völligen Ungebor-genheit und Unsicherheit der allgemeinen Krise. Und diese Auseinandersetzung ist nicht theoretisch und abstrakt, sondern mündet sehr konkret von allen ihren Ansatzpunkten in die Fragen nach dem Wesen des Menschen, nach den Ursachen und dem Sinn der Krise und schließlich in die noch wichtigere, was zu deren Bewältigung getan werden kann.

Zehrer spricht zunächst einmal vom Ende der Neuzeit und aller ihrer Grundlagen und dem Beginn unserer namenlosen Epoche seit etwa drei Jahrzehnten. Die Weltanschauung der Renaissance und des Humanismus sei für uns in Frage gestellt und damit auch deren Ge-schichls- und Kulturphilosophie, die nur auf ihrer eigenen Ebene unwiderleglich ist. Das wird an einigen Beispielen demonstriert, von denen wir auf eines, für Zehrers Art und Haltung charakteristisches, näher eingehen wollen. Zehrer führt aus, daß die durch die Entwicklung der Technik erzwungene Einheit der Welt und der Menschheit zwangsläufig zur Entwicklung eines Weltstaates und einer Weltregierung führen müsse. Diese werde aber, aller Voraussicht nach, nicht, wie der Humanist glaubt, eine Weltdemokratie sein, weil man mit ihr die neue spannungsreiche Welteinheit nicht ordnen und regieren könne. Nach der geschichtlichen Erfahrung müsse vielmehr angenommen werden, daß die Menschheit, nach ihrer völligen Erschöpfung in weiteren Kriegen, einem Weltcäsarismus zustreben muß, der die Atomkräfte bei sich konzentrieren, damit die Welt beherrschen und ihrer Freiheit be rauben werde. Auch die humanistische Auffassung des westöstlichen Dualismus als Gegensatz zwischen Freiheit und Zwang, Individualität und Kollektiv, Demokratie und Totalität sei eine relative insofern, als es sich bei diesem Dualismus im Grunde um eine polare Spannung handelt, die die Tendenz zur Einheit in sich trage. Es liege im Wesen der Totalität, daß man sich ihr gegenüber nur mit ihren eigenen Mitteln behaupten könne; diese müsse aber im Rahmen unserer technischen Zivilisation zwangsläufig zur Aufhebung der Freiheit führen. Weltstaat und Weltfrieden werden also voraussichtlich nicht, wie die humanistische Weltanschauung annimmt, die Freiheit bringen, sondern deren Ende, wenigstens das Ende der humanistischen Freiheitsidee. Das schließt aber nicht aus, daß in und unter solcher Totalität eine ganz neue und andere Freiheit entsteht: die zivi 1isationsindifferente Freiheit des Christen, die, wie schon einmal, in der Anfangszeit des Christentums, dem Cäsar gibt, was er fordert, ihn aber sonst in keiner Weise wichtig nimmt.

Dabei ist Zehrer bei seinem eigentlichen Thema, der Frage nach dem Sinn unserer allgemeinen Krise. Wir stehen auf schwankendem Boden, zwischen Trümmern und Ruinen auch in unserer geistigen Welt. Der mit der Renaissance beginnende Glaube an die Selbstherrlichkeit des Menschen hat sich totgelaufen, ebenso wie der rationalistische Fortschrittsglaube. Zehrer spricht auch vom „Ende der Geschichte“ und meint damit das Ende des nach außen gerichteten Lebens, das den Menschen seine Gegenwartsaufgabe vergessen ließ. Wo die Geschichte zum eigengesetzlichen Mechanismus wurde, ist der Mensch nur mehr Objekt dieses nach vorbestimmten Gesetzen ablaufenden Geschehens, das wie das Schicksal selber über ihm hängt. Das aber ist falsch, denn „die Dinge werden allein entschieden im Hier und Jetzt einer Gegenwart, und sie werden in dem Maße bestimmt, in dem der Mensch mit dieser Gegenwart Ernst zu machen beginnt“.

Das Fazit: Es ist aus mit der Autonomie der Vernunft und mit der Selbstherrlichkeit des Menschen. Der Mensch, hineingestellt in die besonderen Erschütterungen und Gefährdungen unserer Situation, ohne jene äußeren und inneren Attribute, die ihm in den letzten Jahrhunderten das Gefühl seiner bürgerlichen Sekurität garantierten, aber auch gleichzeitig seine wahre Lage verdeckten, muß Farbe bekennen. Er steht nackter denn je vor seiner ewigen Schicksalsfrage: Wer bin ich, wozu lebe ich und welches ist der Sinn meines Daseins und verlangt — als Bestätigung seiner selbst — dringender die Antwort, die ihm nur Gott oder „der andere Mensch“, das Kollektiv in unserer Zeit geben kann. Da das Kollektiv nicht mehr imstande ist, eine gültige Antwort zu geben, muß, nach Zehrer, die Entwicklung zu einer Erneuerung des Gottesglaubens führen, deren erste Anzeichen schon sichtbar werden. Zehrer kommt auch von anderen Ausgangspunkten zu dem gleichen Schluß. Der Mensch steht heute unmittelbarer vor den beiden Grundsituationen der menschlichen Existenz: der barmherzigen Lüge (in unserer Zeit lautet sie: Der Sturm hat sich ausgetobt, wir sind noch einmal davongekommen und können von neuem aufbauen) und der unbarmherzigen Wirklichkeit (die erkennt, daß der dritte Sturm schon herannaht und daß wir nicht wissen, ob er uns verschonen wird).

„Neu an der heutigen Lage des Menschen ist dieses, daß er durch seinen eigenen Zustand und denjenigen der

Welt in jedem Augenblick an die alte Wahrheit erinnert und damit fortlaufend gezwungen wird, sich mit ihr auseinanderzusetzen und ihr standzuhalten. Neu an ihr ist, daß ihm zwischen der barmherzigen Lüge und der unbarmherzigen Wirklichkeit keine andere Möglichkeit bleibt, als in der barmherzigen Wirklichkeit des Glaubens eine christliche Existenz zu finden.“

Uns kann also nicht mehr die Änderung des komplizierten Apparats unserer äußeren Lebensformen helfen; die einzige Rettung ist die innere Wandlung des Menschen durch den „Sprung in den Glauben“. Als Symptome einer derartigen Wandlung nennt Zehrer die geistesgeschichtliche Entwicklung, die über die Etappen des Sozialismus und des existentiellen Denkens auf die Idee des Christentums hinstrebe; besonders in den Kreisen der Intelligenz steht das nachlassende politische Interesse einem wachsenden religiösen gegenüber; und der Verfall der öffentlichen Meinung geht parallel mit dem Erwachen des öffentlichen Gewissens, das vor allem die Kirchen repräsentieren. „Je schneller sich der Verfall im Raum des Liberalen und Totalitären nähert, um so mächtiger wird dieser Faktor im Raum des Geistes und um so entscheidender wird die Stellung der Kirche als Hüter eines Menschenbildes, das von Gnaden Gottes und zum Ebenbild Gottes berufen ist.“

Alle die angedeuteten Symptome des Verfalls wie des neuen Beginns werden am klarsten in Deutschland sichtbar, dem „Niemandsland zwischen den Fronten“, das am meisten getroffen, aber in seiner Züchtigung auch gesegnet wurde. Aus Trümmern und Ruinen ist dem Deutschen eine neue Freiheit erwachsen, „jene Freiheit, die die Menschen spürten, nachdem Haus und Hof abgebrannt und zerstört waren, und nachdem mit einem Schlage alles das nicht mehr war, was einmal alles gewesen war. Es ist dies, was die Apokalypse mit den Worten feststellt: „Und das erste ist vergangen.“ Es gibt heute kein Land in der Welt, in dem man menschlicher leben könnte als in Deutschland, weil das Gestern hier bereits in Schutt und Trümmern liegt. Wer es sich für eine Zeitlang zurückholen will, muß wandern, fort aus unserem Kontinent, denn Europa gibt es nur noch „draußen“ und „drüben“. .

„Europa ist vergangen, und der Humanismus ist vergangen, und der Bürger ist gestorben, und die Sekurität ist zerbrochen, und Heimat, Familie, Beruf und Besitz, sie sind, als seien sie nicht. Der Mensch beginnt so nackt und bloß herumzulaufen, wie er einmal in die Erde gelegt werden wird. Und es ist keine Frage, daß er das heute nur in Deutschland tun kann; denn hier haben wir alle etwas hinter uns, was die Welt noch vor sich hat.“

Zehrer ist manchmal von einer erschreckenden Konsequenz in seinen Gedanken. Wer aus der westlichen Welt wird ihm folgen wollen, wenn er von den Ostdeutschen sagt: „Was geschieht in den 25 Millionen Menschen, in unseren Verwandten und Freunden, die heute noch mitten in ihrem Geschehen stehen, während wir uns bereits den Luxus des Denkens und sogar Sprechens gestatten können? Ist es etwas — und diese Frage versteht der Humanist nicht mehr %—, das uns vielleicht verlorengeht und worum wir ärmer werden?“ Nein, diese Frage versteht der Humanist nicht. Aber der Deutsche versteht sie, und nicht nur jene „einzelnen, von denen Zehrer sagt, daß ihrer mehr geworden seien, auch unter der Jugend, ständig mehr seit 1914“! Auch der Durchschnitt deutsche versteht sie, nicht bewußt vielleicht, aber in seinem Fühlen und seinem Sein. Es gibt auch in Deutschland die Gestrigen — uns scheint, sie sind sogar im Anwachsen seit der Währungsreform —, diejenigen, die wieder auf Besitz, Erfolg und Genuß ihr Leben aufbauen. Aber diese Haltung ist nicht repräsentativ für den Deutschen. „Dies ist die geistige Lage in Westdeutschland. Wer heute wirklich frei und ohne Angst leben will, kann es nur im Rahmen der christlichen

Eschatologie, vor der alles, was er besitzt, zu etwas wird, als besäße er es nicht.“

Viele von den hier angedeuteten Gedanken und Interpretationen sind nicht neu; neu aber ist die Konsequenz, mit der Zehrer „ja“ sagt zum Verfall der alten Welt, weil nur aus ihren Trümmern jenes eine werden kann, das uns not tut: die Erneuerung des Menschen und der Welt aus dem christlichen Glauben.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung