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Alchimie der Seele

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Das Mantra „gate, gate, parasamgate“ des Sutras, das „Geh hinüber, geh hinüber, ans andere Ufer, geh hinüber!“ kennzeichnet Ernst Schönwiese als „Übersetzer“ meditativen Schweigens ins Gedicht, als den Fährmann seines „Silberboots“, immerfort hinüberziehend aus dem Bekannten und Gestalteten ins Unbekannte, neu zu Leistende. „Der Weg ist das Ziel. Kein Zweck heiligt die Mittel. Das Mittel ist selber der Zweck“ (E. S.).

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Das Mantra „gate, gate, parasamgate“ des Sutras, das „Geh hinüber, geh hinüber, ans andere Ufer, geh hinüber!“ kennzeichnet Ernst Schönwiese als „Übersetzer“ meditativen Schweigens ins Gedicht, als den Fährmann seines „Silberboots“, immerfort hinüberziehend aus dem Bekannten und Gestalteten ins Unbekannte, neu zu Leistende. „Der Weg ist das Ziel. Kein Zweck heiligt die Mittel. Das Mittel ist selber der Zweck“ (E. S.).

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Niemals, daß sich Ernst Schönwiese auf einer Lebensstufe niederließe und sie zum Forum erweiterte. Was in der Kunst vom Können kommt und was er sich erarbeitet hat, opfert er auf oder wagt es an einem strengen Versuch, denn „wer sich aufgibt, wird sich gewinnen“ (E. S.). Im „Entwerden“ (ein Lieblingswort Eckharts, das sich auch bei Schönwiese findet) wird der Weg zur Einheit und Einfalt frei, die aller Vielfalt zugrunde liegt. Somit kommt dem Weg bei Ernst Schönwiese größere Bedeutung zu als jedem einzelnen Gedichtband, und möge er noch so geglückt, ja möge er vollendet sein. Solche Kunst, die sich selber als Weg (japanisch: „do“, wie etwa in Judo) versteht und Mitstrebende anleiten und ermutigen möchte, steht im Gegensatz zur Verbrauchskunst, die als Erzeugnis der Warenästhetik den jeweiligen Bedarf befriedigt, keinesfalls aber das Bedürfnis erweckt, den Weg einer geistigen Disziplin voranzuschreiten. Ernst Schönwieses Lyrik ist „engagiert“, da in ihr um und für ein neues brüderliches Gottesverhältnis des Menschen gerungen wird.

Seit 2500 Jahren, seit Heraklit, strebt der Verstand danach, womöglich alle Aussagen auf Beobachtung zu gründen, die, unabhängig von der Wesensart des einzelnen Beobachters, allgemein überprüfbar sind. Dieser wissenschaftliche Stil von Welterkenntnis klammert zwar das Ich aus, päppelt aber die Eitelkeit und Überheblichkeit des Verstandes groß, so daß sich Animus einbildet, in der Sprache rationaler Mitteilung etwas über das wahre und ganze Sein aussagen zu können. Die Literatur, nunmehr zum Anwalt des un-behausten Subjekts und dessen Würde berufen, gibt den Menschen für ein Wesen aus, das sich selber schafft. An die Seite der Verstandes-Uberheblichkeit tritt ergänzend die eitle Subjektivität eines Schein-Ich. Zum Auftrag von Ernst Schönwieses Werk gehört es, die einseitige rationale Haltung ebenso auszuschließen wie die irrationale Vereinsamung eines hochmütigen Subjekts.

„Neben die rational-diskursive Erkenntnis tritt die Erkenntnis durch Identifikation, durch Einswerdung. Die Erkenntnis durch Identifikation ist zugleich die poetische Erkenntnis“ (E. S.). Durch die Einswerdung strebt Ernst Schönwiese zur zweiten Ebene, wo die Gegensätze in ihr Gegenteil umschlagen. Solche Ubergegensätzlichkeit verbürgt Wirkung, die nicht ans Rad der Zeit geflochten, nicht von ihr zerrädert wird. Nein, nicht die Fortdauer von Werk und Name soll als Fetisch aufgerichtet werden. Die Stetigkeit des Geistes ist das Ziel. In chaotischen Gasen blitzen Ladungen, qualmen Atompilze, leuchten Nordlichtdraperien, aber nur im stetigen gallertigen Medium ereignet sich das Leben. Weder durch ein artistisches noch ein kapitalistisches Bollwerk ist das Leben des einzelnen zu retten: „Hingabe kann allein die Rettung des einzelnen sein, Hingabe an den umfassenden Begriff des Du, der niemanden mehr ausschließt.“

Nur die tätige Hingabe — Schönwiese hat sie auch in seinem Berufsleben allenthalben geübt — überwindet den Widerspruch von Animus und Anima, erlöst uns vom Schein-Ich und kräftigt den anderen in uns, so daß er zu immer umfassenderen Identifikationen mit dem Du befähigt wird. Auf diesem Weg hat Ernst Schönwiese seine meditativen religiösen Kräfte entfaltet und die poetologischen Bedingungen überprüft, um seine Ergebnisse zu vermitteln, Impulse zu übertragen.

Die religiöse Kunst des Ostens hat den Dichter hierbei ermutigt und bestärkt. Der westliche moderne Kunststratege — gleichgültig welchen Generalstabs — befehligt gern ein lexikales Heer von Wirklichkeiten und brilliert mit zündenden Einfällen auf dem Wortfeld seiner Schriftstellerehre. Der Ostasiate entrümpelt sogar die Landschaft bis auf einen leeren Raum, in dem uns ein Schilfrohr, der Schleier eines Wasserfalls als Bevollmächtigter der Schöpfung gegenübertritt.

Diese Sparsamkeit — nicht aus Armut, sondern aus Verantwortung hervorgegangen — hat die letzten Gedichtbände und vor allem den Band „Odysseus und der Alchimist“ geprägt.

Ich glaube fast, ich liebe: Die Welt darf sinnlos sein.

Solcher „Lakonismus“ — Goethe sah in ihm eine der wünschenswertesten Qualitäten der Kunst — setzt reiche Erfahrung mit der Strophen-und Wortgestalt voraus. Odysseus ist kein Entdecker. Er findet das Neue auf dem Weg der Um- und Heimkehr. Er ist ein Abenteurer der Treue. Deshalb stammen von ihm die innerlichsten Zeilen der Liebe. Aus ihnen spricht ein Gefühl, das alterslos das Altern begleitet, ja aufhebt. Schönwieses Alchimist paradiert nicht als Synthetiker von Künstlichkeit. Er ist der Alchimist der Seele, der Erprober, Prüfer, ja der Versucher, der uns auch in der Versuchung weiterführt und rettet: ein Aspekt Gottes aus der frühesten Schicht religiöser Erfahrung, noch jenseits der Spaltung in fromme und nebenbuhlerische Engel.

Unter dem der biologischen Evolution entnommenen Modell versuchen wir seit Darwin immer neue Bereiche, geistesgeschichtliche und zuletzt religiöse, zu verstehen und daraus ein Zukunftsprogramm abzuleiten. Hier wie dort geht bei der Entfaltung zwangsläufig die Einfalt verloren, wohingegen die Einfalt unveränderlicher und nicht weiter zerlegbarer Größen von der theoretischen Physik in einer höchst abstrakten Sprache umworben wird. Die Kunst bewegt sich zumeist, dem biologischen Modell entsprechend, der Vielfalt zu. In den allerselten-sten Fällen strebt sie wie die theoretische Physik zur Einheit und urtümlichen Einfalt der Urkonstanten.

Wer solchen Weg als „traditionell“ bezeichnet, zeigt ebensowenig Verständnis für die Wissenschaft wie für wesenhafte Kunst.

Schönwieses Gedichte versuchen, das scheinhafte Ich aufzulösen und den vom Verstandeshindernis und Verstandesdünkel geprägten westlichen Menschen zum Herzensgebet anzuleiten:

... Dein Herz hat seinen Anfang, wo dein Ich zu Ende. Von Ghazali bis Blaise Pascal beschwört das „Herz“ die Ganzheit des Menschen und die Kraft, welche befähigt ist, einander abstoßende Welten in die Gleichzeitigkeit des Gefühls hereinzuholen und dort zu befrieden, „denn wir kennen die Wahrheit nicht durch die Vernunft, sondern durch das Herz“.

Der in Ernst Schönwieses Gedichtbänden beschrittene Weg ist deshalb nachvollziehbar und exemplarisch, weil dem Dichter keine der höheren Versuchungen erspart geblieben ist:

In jeder Versuchung führst Du mich, denn Du selber bist es, der sich in mir sucht. Als unermüdlicher Arbeiter, Essayist und Vortragender kennt er auch die Versuchung, welche in der Arbeit als Zerstreuung liegt. Er, Melodiker der Sprache und der Strophe, hat die Virtuosität von sich gewiesen, die Eitelkeit des Animus, und sich in Gedichten so schlecht geöffnet, wie es nur der vermag, der auf die göttliche Partnerschaft vertraut und an sie glaubt. Von allem Anfang an ist Gott zu gewiß und gegenwärtig, als daß er gesucht werden müßte. Das richtige Gottesverhältnis ist es, worum er ringt.

So bin ich Vater, Mutter dir auf

Erden...

... zu Deinem Sohn will ich in

Dir entwerden. In „Vater, Mutter“ ist ein immanenter Gott gegeben. Aus solcher Immanenz bricht Schönwiese auf und sucht im goldenen Schnitt von Immanenz und Transzendenz das richtige Verhältnis im persönlichen Gott und der Gotteskindschaft.

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