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Langsame Aufholjagd

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Die westeuropäische Integration im Rahmen der EU übt eine ungeheure Anziehungskraft auf die osteuropäischen Staaten aus, die sich nach und nach mit Beitrittswünschen einstellen. Im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik scheint eine ähnliche Faszination von der NATO auf die osteuropäischen Staaten auszugehen, wobei naturgemäß Rußland eine Kontrastpesiti-on einnimmt.

In plakativer Form lassen sich die wichtigsten, von den Reformstaaten angepeilten „westlichen Ziele” wie folgt umreißen: Angleichung der Wirtschaftssysteme durch Etablierung einer funktionierenden Marktwirtschaft, Festigung der pluralistischen Demokratie westlicher Prägung, effektive Gewährleistung der Grund- und Freiheitsrechte, Einbindung in die westeuropäischen Integrationsstrukturen im ökonomischen und im Sicherheitsbereich.

Um die enormen Schwierigkeiten zu ermessen, welche die betroffenen Reformstaaten dabei zu überwinden haben, genügt ein Blick auf die Ausgangslage, in der sich diese noch vor sechs Jahren befunden haben. Deutschland war noch nicht wiedervereinigt und der kommunistische Block mit der Sowjetunion als Hegemoniemacht bestand damals noch. Im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereich stellte sich Osteuropa als erstarrtes und autoritäres System dar, dessen innere Krise immer offenkundiger wurde. Ökonomisch war Osteuropa im Vergleich zu den westlichen Marktwirtschaften hoffnungslos zurückgeblieben. Die über 40 Jahre lang aufgezwungene zentrale Planwirtschaft unter sowjetischem Kommando war noch Anfang 1990 existent. Der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (COMECON) mit den strukturellen Abhängigkeiten der Satellitenstaaten von der UdSSR beherrschte die Spielregeln der Handelsbeziehungen in Osteuropa und verhinderte einen liberalen Warenaustausch mit dem Westen. Im Inneren stagnierten die Volkswirtschaften Osteuropas auf niedrigem Niveau ohne Aussicht auf systemimmanente Reformen. Eine rücksichtslose Industriepolitik hatte zu Umweltschäden größten Ausmaßes geführt.

Ein Auffrischen des Kurzzeitgedächtnisses durch die Vergegenwärtigung der jüngsten Entwicklungen ist deshalb nützlich, weil nur in der Gegenüberstellung deutlich wird, welchen Schock die radikalen und abrupten Veränderungen in Osteuropa ausgelöst haben. Die Transformation, die Osteuropa gegenwärtig zu bewältigen hat und die eine Anpassung auf westliche Standards vorsieht, wird in Anbetracht der Startpositionen nur schrittweise und nicht ohne größere Schwierigkeiten vonstatten gehen. Die Reformprozesse erfordern nicht bloß eine Veränderung der politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, sondern vor allem auch und zuerst ein Umdenken in den Köpfen der Menschen. Diese geistige Umstellung von den Denkkategorien und Verhaltensmustern, die sich in den Hirnen ein halbes Jahrhundert festgesetzt haben, dürfte wohl nur im Generationswechsel erfolgen. Menschen, die nie gelernt haben, in einer auf Eigeninitiative basierenden Unternehmerwirtschaft zu agieren, werden dies auch bei Vorliegen marktökonomischer Strukturen nicht können.

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