6932112-1982_33_01.jpg
Digital In Arbeit

Disziplin tut not

Werbung
Werbung
Werbung

Das Schicksal der pluralistisch-parlamentarischen Demokratie hängt in vielen Ländern an einem seidenen Faden. Die Ursachen dieser Lage sind breit gestreut und tief gestaffelt, ihr Kern ist aber wohl in jener Revolution der steigenden Erwartungen zu suchen, die sich letztlich als geistigmoralisch-politisches Problem darstellt.

Die Wachstumsexplosion des Menschenalters seit dem Zweiten Weltkrieg in den westlichen Industriestaaten und das darauf beruhende Wohlstandswachstum haben weitgehend zur Erosion des Sinnes für politische Freiheit geführt und allein denjenigen für ökonomische Sicherheit übriggelassen und entwickelt. Rudolf Krämer-Badoni hat das wohl zu Recht in die Kurzformel gebracht: „Immer mehr Behagen bei immer weniger Anstrengung."

Was der Soziologe Götz Briefs schon 1926 als das Kernstück des ethischen Wandels der Neuzeit gekennzeichnet hat, die Ethisie-rung des Ideals des Wohllebens, hat sich in der Gegenwart in erstaunlicher Weise radikalisiert; dies hat tiefgreifende Konsequenzen für unser gesellschaftlich-politisches Bewußtsein mit sich gebracht und den Staat zum Adressaten der Wunscherfüllung, die Politik der Idee nach zu einer Technik des Glücks werden lassen ...

Der „Ernstfall" für diesen Staat der Leistung, Verteilung und Daseinsvorsorge setzt bereits bei erheblich verlangsamtem, vollends bei stagnierendem Wachstum ein: das hat Forsthoff schon lange, bevor die Rede von den „Grenzen des Wachstums" zum verbreiteten Begriff wurde, erkannt. Vermag dieser Staat den an ihn gehefteten Erwartungen der Leistungen und Verteilung nicht mehr hinreichend zu entsprechen, wird die Gesellschaft anfällig für,.Panikerscheinungen aller mögli-

chen Art aus Existenzangst."

Der Staat der Industriegesellschaft, der den ständig steigenden Lebensstandard zum wichtigsten gesellschaftlichen Binde- und Stabilisierungsmittel erklärt oder zumindest theorielos-pragmatisch danach verfährt, ist ein „Schönwetterstaat", wie Forsthoff schreibt.

Substantielle Freiheit kann heute nur noch erhalten werden durch „substantielle Institutionen", nicht zuletzt durch einen substantiellen Staat.

Die substantiellen Institutionen allein können uns bewahren vor jenen geschichtlichen Katastro-

phen, großen Liquidierungen und Abrechnungen, „die in wenigen Jahren eine Gesellschaft umdrehen, die früher einverseelten Haltungen, die als selbstverständlich, das heißt natürlich, galten, zerbrechen" (Arnold Gehlen).

Politische Freiheit besteht in Sicherheit, das heißt in institutioneller Stabilität. Nur so erhält sich Kultur in einem menschenwürdigen Sinne und damit die Möglichkeit, „daß junge Menschen in vernünftige Einrichtungen hineinwachsen, die von langen Erfolgen legitimiert sind; sonst werden unersetzbare Erbschaften verschlissen: die Disziplin, die Geduld, die Selbstverständlichkeit und die Hemmungen, die man nie logisch begründen, nur zerstören und dann nur gewaltsam wieder aufrichten kann" (Gehlen).

Die Wiederentdeckung des unauflöslichen Zusammenhangs zwischen freiheitlicher Demokratie und Tugend hat jedenfalls die Sensibilität für die unübersehbaren Mängel der industriellen Zivilisation zu schärfen.

Zur Erziehung und Einübung

von Tugenden gehört nicht nur die sorgsame Uberprüfung des heute so häufig mißverstandenen „kritischen Bewußtseins", das sich in vielen Fällen als unkritisches Fürwahrhalten von Glaubenssätzen entpuppt, als Zynismus, rechthaberische Arroganz und recht schwach ausgebildete Fähigkeit zur Selbstkritik.

Zu dieser Einübung von Tugenden gehört auch die Vermittlung von Erfahrung und Orientierung an Vorbildern, die Ubung der Fähigkeit und Möglichkeit, sich in Ja und Nein zu Vorbildern zu verhalten. Die klassische Lehre von den Tugenden und ihrer Rangordnung war deshalb von unübertroffener realistischer Einsicht, weil sie wußte, daß der Mensch weder perfekt noch unbegrenzt perfektionierbar ist, sondern ein labiles und widersprüchliches Wesen; daß die Rätsel und Übel der Welt nicht hinwegzurefor-mieren und hinwegzurevolutio-nieren sind.

Die modernen Wissenschaften vom Menschen haben uns diese Einsichten bestätigt. Sie haben uns gezeigt, wie vielsichtig und widersprüchlich die menschliche Natur ist und daß deshalb Freiheit nicht als unbefangene Entfaltung solcher „Natur" begriffen werden könne. Individuelle Entfaltung ist vielmehr angewiesen auf Autorität, Vorbild, „Herrschaft". Des Menschen Natur bedarf der regulativen Autorität im Interesse eines realitätsbeständigen Gleichgewichts. ,

Die autonome Freiheit kann weder personal noch politisch das Chaos unserer Bedürfnisse ordnen. Weder beim einzelnen noch im Gemeinwesen ist die Durchsetzung einer humanen Rangordnung der Bedürfnisse ohne Disziplinierung möglich.

Der Autor, Politikwissenschafter in Freiburg und Reutlingen, schrieb eine längere Version dieses Beitrags für „Epoche" (Heft 8/ 82).

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung