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Gebremste Hochstimmung

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Nie mehr seit 1957 herrschte in Rom eine solche Europabegeisterung wie anläßlich der Begegnung des Ministerrates der sechs EWG-Länder im Farnesina-Palast und — einen Tag später — im erweiterten Kreise der zehn Mitgliedstaaten des Gemeinsamen Marktes von morgen im Waffensaal des Odes- calchi-Schlosses von Bracciano. Im Bewußtsein des historischen Augenblicks, da die „Vereinigten Staaten von Europa“ gleichsam aus der Taufe gehoben wurden, war mancher Vertreter der europäischen Staaten sichtlich bewegt. Das Odescalchi-Schloß über dem herrlichen vulkanischen See gab den würdigen Rahmen für das Geschehen — vielleicht für einen Markstein in der Geschichte Europas — ab.

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Nie mehr seit 1957 herrschte in Rom eine solche Europabegeisterung wie anläßlich der Begegnung des Ministerrates der sechs EWG-Länder im Farnesina-Palast und — einen Tag später — im erweiterten Kreise der zehn Mitgliedstaaten des Gemeinsamen Marktes von morgen im Waffensaal des Odes- calchi-Schlosses von Bracciano. Im Bewußtsein des historischen Augenblicks, da die „Vereinigten Staaten von Europa“ gleichsam aus der Taufe gehoben wurden, war mancher Vertreter der europäischen Staaten sichtlich bewegt. Das Odescalchi-Schloß über dem herrlichen vulkanischen See gab den würdigen Rahmen für das Geschehen — vielleicht für einen Markstein in der Geschichte Europas — ab.

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Daß ausgerechnet der Waffensaal eines mittelalterlichen Schlosses zum Versammlungsort der zehn großen Europäer gewählt wurde, ist voll der Symbolik. Seit 500 Jahren wird der Kontinent immer wieder von Kriegen heimgesucht. Die Waffen haben jedesmal, auf Abruf, den Frieden nur vorübergehend hergestellt. Jetzt aber soll diese geschichtsträchtige Stadt Rom, nach unablässigem Völkerringen, die Waffen an der Wand als Warnung, den Startschuß für ein friedliches und geeintes Europa abgeben.

Daß die Minister der heute sechs und morgen zehn EWG-Staaten den Beschluß, sich binnen Jahresfrist, vielleicht noch vor dem nächsten Sommer, auf höchster Ebene zu treffen, in Rom faßten, hat für die Befürworter eines „Großeuropa“ weitere besondere Bedeutung. Am 25. März 1957 wurden hier die Verträge zur Gründung der EWG unterzeichnet, die dann unter dem Namen „Römer Verträge“ in die jüngste europäische Geschichte eingingen. Die Tiberstadt ist nicht nur die Herzstelle des unter den alten Römern geeinten Imperiums, sondern auch seit Jahrhunderten Zentrum der christlichen Kultur und europäischer Zivilisation. Vor 14 Jahren wurde hier der Markstein der wirtschaftlichen, jetzt jener der politischen Einigung Europas gelegt. Die Staatsoberhäupter oder wenigstens die Ministerpräsidenten von zehn europäischen Ländern sollen dann höchst feierlich den Grundstein für die USE, die Vereinigten Staaten von Europa, legen. Wieweit es dann, wie schon so viele Male, beim bloßen Festakt und bei lauten Lippenbekenntnissen bleibt, ist jetzt allerdings das große Fragezeichen.

Nüchterne Beobachter müssen sich auch fragen, ob Europa heute erneut so große Fortschritte machen könnte, wenn kein Druck von außen die Institutionalisierung des Europagedankens ermöglicht, ja gerade aufgedrängt hätte. Die amerikanische han- dels- und währungstechnische Abwendung von Europa, Nixons plötzlich erwachte China-Liebe, das ganze Techtelmechtel der drei Supermächte um die Vorherrschaft oder wenigstens um die Verteilung der Machtsphären unter sich, nötigt die europäischen Staaten wohl oder übel, zusammenzustehen, um nicht noch länger bloßer Spielball der noch Größeren und Einflußreicheren zu sein. Es genügt nicht mehr, wirtschaftlich stark zu sein, wenn der politische Rahmen fehlt, um in schicksalsschweren Augenblicken, wie etwa während der Suezkrise oder auch am 15. August 1971, schnelle gemeinsame Beschlüsse zu fassen, die jedem Beteiligten zugute kommen.

Es hätte Genf sein können…

Eines steht fest: Bei allen Gefahren, die einer Hochstimmung innewohnen, weil die Enttäuschung gleichsam an der Ecke lauert, ist sie doch eine unabdingbare Voraussetzung für die weitere und wirkliche Institutionalisierung des Europagedankens. Ohne Hoffnung und Begeisterung, mit bloßer Abkapselung nach außen und gegenseitigem Mißtrauen, läßt sich ein so gigantisches Vorhaben wie die Vereinigten Staaten von Europa nicht verwirklichen. Die Zeiten sind längst vorbei, in denen ein europäisches Volk hoffen konnte, auf gewaltsamem oder demokratischem Wege die Vorherrschaft auf dem Kontinent durchzusetzen oder verbrieft zu bekommen.

Daß Luxemburg voraussichtlicher Tagungsort des europäischen Gipfeltreffens von 1972 sein wird, ist in dieser Hinsicht symptomatisch, wie auch die Tatsache, daß sich die Vertreter der EWG-Staaten immer wieder in Brüssel, der Hauptstadt eines anderen kleinen Landes, treffen. Wer sich auch nur die Geschichte des Völkerbundes (1919 bis 1939) vor Augen hält, mag sich leicht vorstellen, daß Genf, Bern oder Zürich zum Tagungsort eines europäischen Gipfeltreffens zwecks Überwindung uralter Feindschaften und Antagonismen hätte auserkoren werden können. Über die Enttäuschung des fehlgeschlagenen Völkerbundes und nicht zuletzt deshalb, ist die Schweiz jedoch bisher nicht einmal der UNO beigetreten, gehört sie politisch nicht einmal den Vereinigten Nationen, geschweige denn dem zu vereinigenden Europa an. Enttäuschungen über eine Welt, die nicht mehr so aussieht, wie man sie gern haben möchte, lassen mehr Schweizer als früher und im Gegensatz zur vierfachen Nationalität ihres Staatswesens, nein sagen gegenüber dem Fremden, dem Europäischen und Globalen, lassen sie Zuflucht nehmen beim zu Hause Bewährten, das wegen der reichen und schönen Vielgestaltigkeit dieser Welt zwangsläufig nicht das einzig sich Bewährende sein kann.

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