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Hysterie oder Phantasie?
T£JJ wil1 nicht heftig wider-i sprechen. Ich möchte aber laut nachdenken über einen Plan. Er stammt von der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik und betrifft unsere Gesundheit, betrifft aber auch mehr. Er berührt mit den Mitteln der Naturwissenschaft ein Gebiet der menschlichen Existenz, das mit gerade diesen Mitteln kaum begriffen und erforscht werden kann. Der Plan stellt nämlich die Frage nach Beschaffenheit, Funktionsweise, Macht und Ohnmacht der menschlichen Phantasie.
Kurz die Tatsachen. Die Meteorologen sind dabei, ihren bisherigen Dienst auszuweiten. Sie werden sich künftig nicht darauf beschränken, das Wetter vorherzusagen, sondern wollen ihren Prognosen zusätzlich auch noch eine medizinisch verwertbare Deutung anschließen. Das heißt: Sie wollen die Ärzte, die Krankenhäuser, die Rettung informieren über das zu erwartende Zu- oder Abnehmen der Zahl krisenhafter Krankheitsfälle.
Sicher, die menschliche Physis ist den Wetterbedingungen weitgehend unterworfen. Der Verlauf von Herzkrankheiten kann vom Hoch- oder vom Tiefdruck beeinflußt werden, und manche Menschen sind besonders wetterfühlig. Sicher sollte man manche chirurgische Eingriffe bei ganz bestimmten Wetterverhältnissen lieber unterlassen. Man kann gewiß einigermaßen zutreffendes statistisches Material zusammentragen und also den Apparat der medizinischen Hilfeleistung rechtzeitig alarmieren.
Das Gebiet der Naturwissenschaft wird jedoch an dem Punkt verlassen, an dem jener vorerst noch finstere, wissenschaftlich kaum erforschte Zwischenbereich beginnt: das Gebiet des Hoffens und des Bangens, des Traumes und der Erinnerung, der Autosuggestion und der Sehnsucht. Man muß nicht gleich das gewichtige Wort „Seele“ bemühen. Begnügen wir uns mit der schlichteren Formulierung. Sie lautet: Emotion und Phantasie.
Ja, die Emotion und Phantasie haben sehr oft einen bestimmenden Einfluß auf den Verlauf einer Krankheit. Sie können Krisen auslösen und Heilungsprozesse einleiten, können zur Wiederherstellung der Physis beitragen oder diese zerstören.
Wenn nun die Meteorologen darangehen, uns die medizinischen Gefahren einer Wetterphase zu erklären, wenn sie uns wohlwollend warnend über eine vielleicht bevorstehende Herzattacke informieren, wenn sie uns darüber aufklären, daß es uns an diesem oder jenem Tag übel ergehen könnte, ja dann ... Dann werden wir zum Beispiel versuchen, gar nicht auf die Straße zu gehen, sondern den Tag gleich lieber im Bett zu verbringen. Oder wir lauschen nach innen und verfallen leicht in eine grenzenlose Panik. Oder: wir mobilisieren die Gegenkräfte des Bewußtseins, reden uns ein, daß wir uns nur zusammenreißen müssen, um dem tödlichen Schlag zu entgehen, die Folge wäre eventuell eine krankhafte Verkrampfung, ein Krampf der Phantasie und auch der Physis. So könnte es geschehen, daß die Warnung das Unglück nicht verhindert, sondern auslöst.
Das Gegenargument ist statistischer Natur. Es lautet: Gewiß, es gibt Hysteriker, aber sie sind doch nicht in der Mehrzahl. Entscheidend ist die Mehrheit.
Das ist der Augenblick, in dem auch die kulturhistorische, also die politische Dimension der Frage klar hervortritt. Ist der Tod des einzelnen, ist Tod überhaupt mit einem quantitativ ausgerichteten Koordinatensystem zu erfassen? Und weiter: Wer wagt es, zwischen der negativ wirksamen Hysterie und der lebenserweiternden, also positiv wirkenden Phantasie eine klar erkennbare Trennungslinie zu ziehen? Und schließlich: Werden durch die wohlmeinende Warnung der Meteorologen nicht gerade die Phantasiebegabten besonders gefährdet, die Sensiblen, die geistig besonders Aktiven? Führt also der scheinbar so verdienstvolle Plan nicht zu einer krassen Benachteiligung der Menschen mit Phantasie?
Eine Gesellschaft kann mitunter auch an ihrer eigenen vermeintlichen Vernunft irre werden: durch Mißachtung der unerforschten geistigen Vorgänge, durch eine unmenschliche Anwendung des statistischen Quantitätsprinzips und durch eine -Gefährdung gerade der phantasiebegabten Menschen.
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