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Ich glaube nicht an Apokalypse und Weltutopie ...

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Ich glaube nicht an das Heraufdämmern einer Apokalypse, wie sie vor bald fünfzehnhundert Jahren noch einer der größten Päpste der Kirchengeschichte, nämlich Gregor I., auf den Trümmern römischer Zivilisation verzweifelt beschrieben hat. Ich glaube aber auch nicht an die Erfüllung irgendeiner dieser politischen Utopien, die von Piaton bis Campanella und letztlich auch - ich sage das mit allem gebotenen Respekt - von Augustinus bis Marx für die menschliche Gesellschaft leidenschaftlich beschrieben worden sind.

Denn obgleich die Geschichte der Menschheit aus einer imponierenden Kette von Erfindungen und Erkenntnissen besteht, die dem materiellen und dem moralischen Zustand der Menschen nützlich sind, so kann ich die Augen doch nicht vor der Tatsache verschließen, daß die Geschichte der Menschheit auch aus einer Kette von erschreckenden Erfindungen und Erkenntnissen besteht, die jeden materiellen und moralischen Wert wieder in Frage stellen.

Denn während ich noch das theoretische Werk aller Wortführer aus allen ideologischen Lagern studiere und mir die Grundsatzerklärungen und gleichsam makellosen Gesetze von der Menschenrechtsdeklaration bis zur schönen Phrase des unveräußerlichen Rechtes auf Arbeit für jedes Individuum überlege, begreife ich mit wachsendem Erstaunen die ungeheuerliche Diskrepanz, die zwischen Worten und Taten besteht.

Und ich begreife auch, daß der Abscheu der Gesellschaft gegen jede Art von Gewalt und Unterdrückung und Benachteiligung noch nie so groß war wie heute, da nach allen historischen Erfahrungen Gewalt, Unterdrückung und Benachteiligung selbstverständliche Versatzstücke auf der Bühne unseres Lebens sind. Denn es predigen zwar alle unsere politischen und ideologischen Missionare eine Art unbefleckter Moral, eine utopisch anmutende Vornehmheit der Gedanken und Handlungen, aber zur gleichen Zeit werden die simpelsten menschlichen Wahrheiten bedenkenlos vergewaltigt.

Meines Wissens war Oppenheimer, einer der genialen Erfinder der Atombombe - um es so vereinfacht zu sagen -, nahezu der einzige unter den daran beteiligten Wissenschaftlern, dessen moralische Skrupel weltweit bekannt wurden. Meines Wissens hat jener britische Luftmarschall namens Harris, der als Erfinder angelsächsischer Bombenteppiche auf deutsche Städte gilt, nie ein Wort der Verlegenheit oder gar des Mitleids geäußert. Meines Wissens ist es nicht nur spätimperialistische Perfi-die, sondern gehört auch zu den Selbstverständlichkeiten kommunistischer Strategie, den Hunger und das Elend der Dritten Welt als ein Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele zu betrachten.

Und meines Wissens unterscheidet sich die Ohnmacht des durchschnittlichen Bürgers in vielen Ländern mit demokratischen Verhältnissen von der Ohnmacht des durchschnittlichen Bürgers in vielen Ländern mit totalitären Verhältnissen nur dadurch, daß der demokratisch verwaltete Bürger seine Ohnmacht mit beredten Worten beschreiben darf.

Der Mensch ist nach den philosophischen Vorstellungen politischer und ideologischer Missionare vernunftbegabt und gut. Aber die Praktiker unter diesen Missionaren nehmen auf diese schmeichelhafte Einsicht keine Rücksicht. Die Politik etwa, die unter der Tarnflagge der Ideologie spätestens seit diesem Jahrhundert den Glauben abzulösen versucht, ist nichts weiter als zuerst einmal e'in Instrument der Macht.

Und weil ich weiß, daß die praktische Strategie der Macht bis auf weiteres der eher ästhetischen Welt der Moral und Philosophie überlegen sein wird, bleiben meine Zweifel an einem Gesellschaftssystem ungebrochen, das als das gelungenste und fortschrittlichste in der besten aller Welten gepriesen wird.

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