6873798-1978_36_08.jpg
Digital In Arbeit

Leistung muß auch einen Sinn haben

19451960198020002020

Ist Leistung gut oder schlecht, unverzichtbar oder unmenschlich, Mittel der Selbstverwirklichung oder des Klassenkampfes? Dazu hielt der bekannte Münchner Sozialwissenschafter Univ.-Prof. Kurt Sontheimer vor Monaten bei einem IBM-Kongreß in Wien einen Vortrag, aus dem wir wesentliche Auszüge bringen

19451960198020002020

Ist Leistung gut oder schlecht, unverzichtbar oder unmenschlich, Mittel der Selbstverwirklichung oder des Klassenkampfes? Dazu hielt der bekannte Münchner Sozialwissenschafter Univ.-Prof. Kurt Sontheimer vor Monaten bei einem IBM-Kongreß in Wien einen Vortrag, aus dem wir wesentliche Auszüge bringen

Werbung
Werbung
Werbung

Der Dichter Heinrich Boll erzählt in einer seiner Kurzgeschichten von einer Begegnung zwischen einem deutschen Touristen und einem französischen Fischer, der sich mittags nach getaner Arbeit in der Nähe seines Fischkutters, in der Sonne liegend, von den Strapazen seines morgendlichen Fischfangs erholt.

Bei dem längeren Gespräch, das die beiden miteinander führen, versucht der deutsche Tourist, dessen Mentalität die eines Wirtschaftswunderkindes ist, dem zufriedenen Fischer klarzumachen, daß er bei wirksamerem Einsatz seiner Arbeitskraft und unter Verwendung der besten deutschen Techniken in relativ kurzer Zeit seinen wirtschaftlichen Erfolg so steigern würde, daß er am Ende über eine kleine Fischereiflotte verfügen und andere für sich arbeiten lassen könnte. Zumindest ab Mittag könne er sich dann in die Sonne legen und sein Leben genießen.

Der Fischersmann zeigt sich wenig beeindruckt. Schon jetzt könne er es sich doch leisten, mittags in der Sonne zu liegen und sein Leben zu genießen. Was wolle er mehr?

Diese kurze Geschichte enthält einen wahren, uns allen vertrauten Kern. Sie erinnert uns daran, daß der Mensch, um glücklich und zufrieden zu sein, nicht der

ständigen Leistungssteigerung

bedarf, daß folglich eine Gesellschaft, die sich dem Gedanken der stetigen Leistungssteigerung verschreibt, nicht automatisch glückliche und zufriedene Menschen hervorbringt.

Wir befinden uns in einer geistigen Situation, in der der Leistungsgedanke, die Idee der Leistungsgesellschaft und das Leistungsprinzip nicht mehr selbstverständlich gelten, ja, im Gegenteil, sich einer wachsenden Infragestellung und Kritik ausgesetzt sehen. Diese Entwicklung ist Teil einer allgemeineren Krise unserer gesellschaftlichen Entwicklung, die man als die Krise des Fortschrittsgedankens bezeichnen kann.

Wir sollten aber gerade angesichts der Kritik nicht in Vergessenheit geraten lassen, daß die Idee der Leistungsgesellschaft das Gegenmodell zu einer undemokratischen Gesellschaft der Privilegien ist, und daß das in den letzten Jahren so viel beschworene Prinzip der Chancengleichheit in einer differenzierten Gesellschaft mit ihren Einkommens- und Statushierarchien ohne die Verbindung mit dem Leistungsprinzip jeden vernünftigen Sinn verliert

Eine demokratische Gesellschaft, die ihre Einkommenschancen nicht auf Grund von erblichen Privilegien oder von Patronage oder nach dem im öffentlichen Dienst so geschätzten Prinzip der Anciennität verteilen will, kann nur das Leistungsprinzip als Grundlage für die Zuteilung oder den Erwerb materieller Lebenschancen anerkennen - auch wenn dieses nicht das einzige Kriterium sein darf.

Warum ist trotzdem das Leistungsprinzip und die auf dem Leistungsprinzip beruhende Wettbewerbsge-

Seilschaft bei uns so sehr in Verruf geraten?

Der erste Grund scheint mir darin zu liegen, daß die Handhabung des Leistungsprinzips in unserer gegenwärtigen Ordnung nicht durchgehend gerecht genug erscheint. Die' Unterschiede in unseren Einkommen mögen zwar auf einer groben gesellschaftlichen Einschätzung des Wertes einer Leistung beruhen, aber niemand dürfte in der Lage sein, überzeugend zu beweisen, daß die materielle Belohnung von Leistung durchgehend einem gerechten Maßstab entspricht.

Die Leistung eines Unternehmens bemißt sich in der Wettbewerbswirtschaft nach dem Markterfolg, nach der Rentabilität des eingesetzten Kapitals, nach dem Profit etc. Die Leistung eines Arbeiters oder Angestellten wird

auf Grund von erbrachten Qualifikationen und konkreten Arbeitsleistungen gemessen. Das sind, wie jeder sehen kann, durchaus verschiedene Maßstäbe.

Der zweite Grund für das Unbehagen am Leistungsprinzip liegt darin, daß zur Idee der Leistungsgesellsohaft konsecjuenterweise auch die Idee der Chancengleichheit gehört. Wenn in einer gesellschaftlichen Ordnung die Zuteilung von Lebenschancen nach dem Leistungsprinzip erfolgt, dann sollte jeder auch die gleiche Chance haben, an diesem Leistungswettbewerb teilzunehmen.

Der dritte Grund für das feststellbare Mißtrauen gegenüber dem Leistungsprinzip liegt in der wichtigen Erkenntnis, daß es falsch und inhuman wäre, das Leistungsprinzip radikal zu verwirklichen, das heißt, es überall im menschlichen Leben anzuwenden. Die Theologen und die Psychologen haben gewiß recht, wenn sie betonen, daß eine einseitige Orientierung des Menschen auf Leistung und Erwerbsstreben zur Verkümmerung wichtiger Bereiche' des menschlichen Lebens führen kann.

Der katholische Theologe Hans Küng hat darauf hingewiesen, daß es für den Christen gerade nicht auf die Selbstrechtfertigung des Menschen durch Leistungen ankomme, sondern auf das „Festhalten an Gott durch Jesus in einem glaubenden Vertrauen.“ Ein anderer, diesmal ein evangelischer

Theologe, drückte diesen Gedanken kritisch so aus: „Wer sich dem Glauben an die Leistung verschreibt, kommt nicht zu sich selbst, sondern er zahlt mit sich selbst.“

Mir scheint, daß wir in der heutigen geistigen Situation die Leistungsgesellschaft und das ihr innewohnende Prinzip des Wettbewerbs zwischen Menschen nur überzeugend rechtfertigen können, wenn wir zeigen können, daß der Leistungsgedanke weder der Idee der persönlichen Selbstentfaltung des Menschen noch der gesellschaftlichen Idee einer humanen Ordnung entgegensteht.

Was das Recht des Menschen auf persönliche Selbstentfaltung angeht, kann man, so glaube ich, zeigen, daß die höchste Form menschlicher Selbstverwirklichung gerade dort zu beobachten ist, wo der Mensch gefordert ist, wo er zu Leistungen angespornt wird, wo er, um mit Goethes Faust zu sprechen, „strebend sich bemüht“.

Was die Gesellschaft angeht, so beruht ihre materielle Daseinsgrundlage ausschließlich auf der Leistungsfähigkeit ihrer Wirtschaft. Die Humanität einer so organisierten Gesellschaft beruht meines Erachtens darin, daß sie jedem Menschen, auch dem wirtschaftlich nicht so leistungsfähigen, die Voraussetzungen für eine menschenwürdige Existenz schafft.

Der moderne Sozialstaat ist der Versuch, die unerwünschten sozialen Folgen eines rein wirtschaftlich orientierten Leistungsgedankens aus humanitären Gründen zu mildern. Aber es wäre ein schlimmes Mißverständnis, wenn man, wie es manche kritische Intellektuelle tun, die Idee der Leistung zürn' eigentlichen Feind der Gesellschaft stempelt, denn ohne Leistung gibt es keinen individuellen und sozialen Fortschritt.

Ich bezweifle, daß ein Mensch, der von Leistungsanforderungen und damit auch vom Leistungsdruck völlig entlastet wäre, dem naturgemäß auch •;die Erfahrung von Leistungsglück versagt bleiben muß, wirklich freier wäre für ein humaneres, erfüllteres und solidarischeres Leben.

Der Hauptfehler in der Kritik an der gegenwärtigen Leistungsgesellschaft scheint mir darin zu liegen, daß man den Leistungsgedanken ausschließlich ökonomisch interpretiert, obwohl unsere Gesellschaft am Leistungsgedanken auch dort festhalten muß, wo seine Ergebnisse sich nicht unmittelbar ökonomisch oder in Gestalt einer materiellen Bilanz ausdrücken lassen.

Wer mißt beispielsweise die Leistung des Arztes, der sich noch die Zeit nimmt, im Gespräch auf den Patienten einzugehen? Wer die Leistung eines Lehrers, der sich mit den individuellen

Sorgen und Problemen seiner Schüler abgibt? Solche Leistungen sind ihrer Natur nach nicht meßbar, und doch handelt es sich gerade hier um Leistungen, die für die Humanität oder, modisch gesprochen, für die Lebensqualität einer Gesellschaft ganz unverzichtbar sind.

Es geht also nicht um Leistung um der Leistung willen. Leistung muß einen Sinn haben, einen individuell und auch kollektiv erlebbaren Sinn. Nur dann kann sie den Menschen und die Gesellschaft überzeugend motivieren. Unsere Leistungsgesellschaft käme in der Tat an ihr verdientes Ende, wenn wir ihr keinen Sinn mehr abgewinnen könnten.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung