6818948-1973_24_04.jpg
Digital In Arbeit

Maßanzug paßt nicht

Werbung
Werbung
Werbung

„In den westlichen Demokratien ist der liberal-demokratische, repräsentative Parlamentarismus, zu dem sich die geschriebenen Verfassungen meist noch bekennen, in der politischen Verfassungswirklichkeit mehr und mehr zu einem Klischee geworden.“

Mit diesem Satz charakterisierte der deutsche Staatsrechtler und Rieh- ' ter, am Bundesverfassungsgericht, • Professor Leibholz, im Rahmen einer Veranstaltung des „Karl-Kummer-Institutes“ (Thema: „Entwicklungstendenzen der heutigen Demokratie und des Parlamentarismus“), einen weithin vollzogenen Strukturwandel der modernen Demokratien. „Im Bereich des Verfassungsrechts“, so führte Leibholz die konkrete Situation (nicht nur) der Bundesrepublik aus, „hat diese Entwicklung zu einer gewaltigen Machtsteigerung der politischen Parteien“ geführt, was folgerichtig die verfassungsrechtliche Legalisierung und Institutionalisierung der Parteien, „dieser notwendigen Instrumente für die Willensbildung des Volkes“ mit sich brachte. In der Bundesrepublik sind die Parteien heute sogar privilegiert, im Gegensatz zu anderen politischen Organisationen können sie nur durch das Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt werden und haben das Recht, als Verfassungsorgan einen Verfassungsorganstreit vor den Verfassungsgerichtshof zu bringen und zur Bestreitung ihrer Unkosten finanzielle Mittel vom Staat in Anspruch zu nehmen.

In Österreich hingegen besteht zwar Übereinstimmung, daß der einstige Maßanzug „Verfassung“ nicht mehr paßt, an manchen Stellen zu weit (oder zu eng) geworden ist, er seine einstige Form eingebüßt habe, und daß — um im Bild zu bleiben — dringend eine Änderungsschneiderei mit dem einstigen Maßwerk zu beauftragen sei, doch der konkrete Auftrag (sprich: die Anpassung der

geschriebenen Verfassung an die Realverfassung) auf sich warten läßt. Tatsache jedoch ist, daß dieses Spannungsverhältnis zwischen normativer und gesellschaftlicher Realität Freiräume entstehen ließ, in denen rechtspolitisch nicht fixierte Tatsachen wuchern. Gerade in Österreich entstanden und entstehen im vor- und/ oder außerparlamentarischen Raum Machtträger, deren (faktische) Entscheide erst durch nachfolgenden Gesetzesbeschluß des Parlaments saniert werden: eine wohl nicht zu übersehende Konkurrenzierung des idealtypischen Modells des Parlamentarismus.

Auf die Parteien- und verbändestaatliche Transformation des Parlamentarismus wies auch ' Professor Welan hin und führte als Ursachen vor allem die durch gewandelte Staatsaufgaben bedingte „verwaltungsstaatliche Transformation“ (Leistungsstaat, Bürokratie und Ex-pertokratie), die gesteigerte Bedeutung der Massenmedien, insbesondere der elektronischen Medien („massenmediale Transformation“) und den Aufbau internationaler Kommunikationsstrukturen an.

Diese Befunde komplettierte der österreichische Verfassungsrechtler, Bundesrat Prof. Schambeck, durch die Forderung nach dem Ausbau der Kontrollrechte des Parlaments, dessen Organisation auf die aus der Zeit der Monarchie datierende Unterscheidung Regierung versus Parlament und nicht auf die heutige, faktische Gewalteneinheit Regierung—Mehrheitsfraktion abgestellt ist. So sollte nach den Vorschlägen von Schambeck nicht nur das Recht zur Anfrage, sondern auch das Recht zur Abhaltung von Enqueten, der Einsetzung von Untersuchungsausschüssen und der Beschließung von Resolutionen der Opposition (den Oppositionsfraktionen) als Minderheitenrecht zugänglich gemacht werden. „Das gleiche gilt für die Notwendigkeit, auch einer parlamentarischen Minderheit das Recht zur Ministeranklage und der Anfechtung von Gesetzen wegen des Verdachtes der Verfassungswidrigkeit beim Verfassungsgerichtshof ebenso einzuräumen wie von Kontroll- und Prüfungsanträgen beim Rechnungshof.“

Analoge Rechte sollten auch dem Bundesrat, der zweiten Kammer, über deren politische Effektuierung seit langem diskutiert wird, zugedacht werden. Die gesamte Problemstellung dieser Arbeitstagung und die Notwendigkeit, zeitangepaßte Verbesserungen der politischen, finanziellen und rechtlichen Kontrollrechte des Parlaments in Angriff zu nehmen, faßte Professor Schambeck lakonisch zusammen: „Sonst geht die wirksame Kontrolle der Regierung und die öffentliche Meinungsbildung noch mehr auf außerparlamentarische Kräfte über.“

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung