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Schmonzes statt Tachles

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Politiker, die in den klassischen Bereichen ihrer Zuständigkeit sich verausgabt haben, offerieren dem von Neutralismus, Inflation usw. bereits bis zur Lethargie gelangweilten Publikum etwas, das anscheinend neu ist im Repertoire: eine höhere „Qualität des Lebens“. Gemeint ist damit nicht ein besseres Huhn im Topf oder ein besseres Straßennetz — denn dafür zu sorgen, behaupten die Politiker ja schon seit eh und je —, sondern gemeint ist damit so etwas wie Glück.

Nun ist Politik, schon vom Wortstamm her, das staatliche oder auf den Staat bezogene Handeln, als Staatspolitik zur Verwirklichung der Staatszwecke, als Parteipolitik zur Erringung und Behauptung von Macht oder Einfluß jm Staat. Nur indirekt also zielt sie auf den Menschen: etwa durch die Erhaltung des Friedens, durch die Schaffung und Wahrung von Recht und Gesetzlichkeit, durch die Vermehrung des Wohlstands, durch die Verallgemeinerung von Bildung und Kultur. So vermag sie sehr wohl, gewisse Voraussetzungen des Glückes zu schaffen, nicht aber, das Glück selbst zu bewirken.

Der Wahn, die Politik könne menschliches Glück im direkten Verfahren produzieren, dürfte nicht sehr viel jünger sein als die Menschheit; weltweit ausgebreitet und verfestigt hat er, dieser Wahn, sich durch Marx, aus dessen schwachem Denkgebäude das bis zur Blendung gleißende und gleißnerische Licht einer Vision, einer irdisch orientierten Prophe-tie strahlte (und aus den Ruinen jenes Denkgebäudes strahlt es noch immer, ja mehr noch: erst der Ruin der ökonomischen Thesen hat die darein verpackte Glaubenssubstanz zur völligsten Ausstrahlungskraft befreit): die Vision vom ganzen, vom totalen, vom „reichen und tief allsinnigen Menschen“. Für Marx „beginnt das Reich der Freiheit erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört“; und wo der „unmittelbare materielle Produktionsprozeß“ die Form der „Notdürftigkeit“ abgestreift hat, bringt die „künstlerische, wissenschaftliche Ausbildung der Individuen durch die für alle freigewordene Zeit“ den Menschen zu sich selbst, zu seiner wahren Bestimmung und damit zu seinem Glück. Diesen Zustand herbeizuführen vermag aber, sagt Marx weiter, nicht etwa irgendeine Ethik oder die persönliche Lebenskunst, sondern allein die Politik, und zwar die „wirkliche kommunistische Aktion“.

In der Welt der Tatsachen freilich resultiert das Glück weder aus der Verkürzung der Arbeitszeit noch aus der schöpferischen Beschäftigung mit den Künsten und Wissenschaften, sondern immer nur aus der Bewußt-machung der Lebensrealität, aus der freien Übereinstimmung mit dem unerbittlichen Schicksal, letztendlich also — um den alternden Stalin sinngemäß zu zitieren — aus dem Akzeptieren des Todes. Die Sehnsucht nach Glück verweist also den Menschen über sich selbst hinaus, sie verlängert ihn, ob er das denkend will oder nicht, in die Transzendenz. Die jetzt allenorts zitierte „Qualität des Lebens“ aber ist nichts weiter als purer Marxismus im Jargon der Bourgeoisie.

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