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Turrinis „Kindsmord

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Eine Zeitungsmeldung wird Anlaß für Turrini, sich in die Psyche einer Frau zu vertiefen, die es satt bekam, vom ersten Schritt an durch den Mann gegängelt zu werden — vom liebenden, sorgenden Vater, vom liebbesorgten Freund und von den Zwängen einer Gesellschaftsordnung, die vom Mann geformt wurde. Sie fühlt sich immer nur „daneben“. Ausgeschlossen von eigener Entschließung, ist ihr der Gedanken Blässe angekränkelt, der Zweifel und Verzweiflung Tyrannei. So führt es sie zur Tat, die einmal eigenen Willen zu bestätigen scheint: sie ertränkt das mehrere Wochen alte Kind im Bade. Und bereut. Sinnesverwirrung? Vielleicht. Aber der Autor weiß mehr um Weh, Wohl und Wollen dieser Frau, die sich der einengenden Liebe des Vaters entzog und der des Freundes, die ihr die Lust nach seinen Wünschen aufzwang. Das Kind ist unterwegs, von dem sie nicht wußte, ob es erwünscht sei oder nicht; es sich nehmen lassen, gelingt nicht. So trägt sie aus, was sie ertrug, und gebiert, bis Aufgestautes fortzeugend Böses muß gebären: den Kindesmord.

Schuldig oder unschuldig, die Frage bleibt offen; das Urteil vernehmen wir nicht. Wir sollen es uns bilden und erkennen, wohin unsere Gesellschaft treibt, wenn sie's — nach Turrini — so weiter treibt mit der dauernden Vergewaltigung xler Frau. Er löst aus dem Ganzen den Einzelfall und schließt von ihm auf das

Ganze. Und hier regt sich Widerspruch, wobei diesem unsere bürgerliche Erziehung und vielleicht auch unsere Gläubigkeit Ratgeber sind. Wie dem auch sei, man kann des Autors Standpunkt nicht mit einer Geste abtun; man muß sich seinen Argumenten stellen; das macht den Wert des Stückes aus, das Turrini mit einer Sprache, die sich kein Blatt vor den Mund nimmt und doch auch zur Dichtung hinfindet, so zu formen wußte, daß es packt, von wo zur Ergriffenheit nur ein Schritt ist. Er weiß zu sagen, was „Sie“ leidet, und sagt's mit Überzeugung, die in manchem zu überzeugen vermag.

Drei Stimmen — Vater, Freund, Richter — tragen den Fall akustisch vor, den „Sie“ leiblich und seelisch vertritt, stark und unüberhörbar. Der Frau des Dichters, Susanne Liebermann, ist es gegeben, Wort und Körper eindringlich in den Dienst der Rolle zu stellen. Von einem Schaltpult aus, das fast symbolischen Charakter annimmt, schaltet und waltet sie, unterbricht den Ablauf, ohne daß es stören würde — (Gebt ihr ein Stück, so gebt es gleich in Stücken!) — und gehorcht so der subtilen Regie des Helmut Polixa. Für die Studiobühne auf der Bühne hinter dem „Eisernen“ hatte Hannes Rader Sorge getragen: eine Spielfläche, um die auf ansteigenden Bankreihen das Publikum Platz fand. Die lauschende Hundertschaft schien sich, nach der Intensität des Beifalls zu schließen, verdreifacht zu haben.

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