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Verlust der Tugend

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Das, was Moral einmal war, ist zum großen Teil verschwunden. Damit Gemeinsamkeit. Langsam dämmert uns, was verlorengegangen ist. Wir suchen wieder Tugenden.

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Das, was Moral einmal war, ist zum großen Teil verschwunden. Damit Gemeinsamkeit. Langsam dämmert uns, was verlorengegangen ist. Wir suchen wieder Tugenden.

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Der Philosoph Alasdair Mac-Intyre hat in seinem 1987 in deutscher Sprache erschienenen Buch „Der Verlust der Tugend“ ein beunruhigendes Gedankenexperiment vorgestellt, ein Bild des Schreckens: Die Naturwissenschaften sind Opfer einer politischen Katastrophe geworden. Forscher wurden hingerichtet, Laboratorien und Bibliotheken niedergebrannt, Geräte und Einrichtungen vernichtet. Ruinen, Reste und Bruchstücke blieben übrig. Einzelne zerrissene Blätter, halbverkohlte Pläne, einige Seiten aus Büchern, Teile von Geraten, deren Zweck unbekannt ist, Ausschnitte von Theorien, deren Bezüge zu Experimenten niemand kennt.

Dieses Bild soll uns aufrütteln. In der Ethik und in der sittlichen Alltagspraxis ist es nämlich genau so. Die Tradition, in der sittliche Fragen vor Jahrhunderten behandelt worden sind, ist verloren und vergessen. Das, was einmal Moral war, ist zum großen Teil verschwunden. Wir können nur feststellen, daß sie nicht mehr das ist, was sie einmal war.

Das Erstaunliche an moralischen Äußerungen von heute ist, daß sie nichts Gemeinsames mehr ausdrücken. Sie werden dazu benutzt, Meinungsunterschiede auszudrücken. Und das Erstaunlichste an den Debatten, bei denen diese unterschiedlichen Auffassungen zum Ausdruck kommen, ist, daß sie endlos sind. In unserer Kultur scheint es keinen vernünftigen Weg zu geben, eine moralische Ubereinstimmung zu erzielen.

Zwei Beispiele für Meinungsunterschiede in moralischen Äußerungen:

• Ein gerechter Krieg ist ein Krieg, in dem das angestrebte Gute das mit einem Krieg verbundene Schlechte aufwiegt, und in dem klar getrennt werden kann zwischen Kämpfenden, deren Leben auf dem Spiel steht, und den unschuldigen Nichtkämpfenden. Aber in einem modernen Krieg läßt sich die drohende Eskalation niemals verläßlich abschätzen. Eine praktisch anwendbare Trennung von Kombattanten und Nichtkom battanten ist nicht möglich. Daher kann kein moderner Krieg ein gerechter Krieg sein.

• Wenn Du den Frieden willst, rüste für den Krieg. Die einzige Möglichkeit der Friedenssicherung besteht darin, potentielle Angreifer abzuschrecken. Deshalb muß man aufrüsten und klarmachen, daß die eigene Politik einen Krieg in jedwedem Ausmaß nicht unbedingt ausschließt. Das klarzumachen beinhaltet zwangsläufig, darauf vorbereitet zu sein, sowohl begrenzte Kriege zu führen wie auch bei ganz bestimmten Konflikten bis an die nuklearen Schwellen zu gehen, ja sogar darüber hinaus. Sonst wird man den Krieg nicht vermeiden und besiegt werden.

• Kriege zwischen den Groß-mächten.sind reine Vernichtungskriege. Aber Kriege, die zur Befreiung unterdrückter Gruppen, vor allem in der Dritten Welt, geführt werden, sind ein notwendiges und daher gerechtfertigtes Mittel zur Bekämpfung jener ausbeuterischen Herrschaft, die sich zwischen die Menschheit und das Glück stellt.

Oder das andere Beispiel:

• Jeder Mensch hat bestimmte Rechte hinsichtlich der eigenen Person und des eigenen Körpers. Aus dem Wesen dieser Rechte folgt, daß in der Phase, in der der Embryo wesentlicher Bestandteil des Körpers der Mutter ist, diese ein Recht darauf hat, frei zu entscheiden, ob sie abtreiben lassen will oder nicht. Die A btreibung ist somit moralisch zulässig und sollte gesetzlich gestattet sein.

• Ich kann nicht wollen, daß meine Mutter abgetrieben hätte, als sie mit mir schwanger war, ausgenommen vielleicht, wenn sie sicher gewesen wäre, daß der Embryo tot oder schwer geschädigt ist. Aber wenn ich das in meinem Fall nicht wollen kann, wie kann ich dann anderen das Recht auf Leben abstreiten, das ich für mich selbst beanspruche? Ich würde gegen die goldene Regel handeln, würde ich einer Mutter ein generelles Recht aufA btreibung zugestehen. Ich bin dadurch selbstverständlich nicht zu der Ansicht verpflichtet, daß Abtreibung gesetzlich verboten werden sollte.

• Mord ist Unrecht. Mord tötet unschuldiges Leben. Ein Embryo ist ein Individuum, das sich von einem Neugeborenen nur dadurch unterscheidet, daß es sich in einer früheren Phase des langen Weges zu den Fähigkeiten eines Erwachsenen befindet. Wenn überhaupt ein Leben unschuldig ist, dann das eines Embryos. Wenn Kindestötung Mord ist, was der Fall ist, dann ist Abtreibung Mord. Abtreiben ist damit nicht nur moralisch verwerflich, sondern sollte auch verboten sein.

Im ersten Beispiel sind die Prämissen Gerechtigkeit und Unschuld unvereinbar mit Erfolg und Uberleben. Im zweiten Fall widersprechen die Prämissen, die Rechte beschwören, denen, welche Allgemeingültigkeit anrufen.

In unserer Gesellschaft gibt es offenbar keine eindeutige Möglichkeit, zwischen diesen Forderungen zu entscheiden. Daher erscheint die moralische Argumentation zwangsläufig endlos. Es kommt zu einer Aneinanderreihung von Monologen, von Meinungen, aber nicht zu Verständigung. Die Öffentlichkeit ist ein Jahrmarkt der Egoismen.

Aber was sind Tugenden? Alasdair Maclntyre stellt Tugenden als „erworbene menschliche Eigenschaften vor, deren Besitz und Ausübung uns im allgemeinen in die Lage versetzt, die Güter zu erreichen, die einer Praxis inhärent sind, und deren Fehlen wirksam verhindert, solche Güter zu erreichen“.

Dabei sind Tugenden aber nach ihm immer nur im gesellschaftlichen Kontext zu erfassen. Das Gut, das erreicht werden kann, wird nicht weniger, wenn man es erreicht, sondern es wird mehr. Wenn man es erreicht hat, wird es nämlich mehr für alle, die an der Gesellschaft teühaben. Bei den Tugenden ist es so wie bei einem Heiligen: Er bereichert alle.

In der christlichen Tradition unterscheidet man nach Ursprung, Wesen und Ziel natürlicher und übernatürlicher Tugenden. Die natürlichen gründen in der leiblich-geistigen Natur des Menschen und werden durch beständige Übung entwickelt (erworbene Tugenden). Sie vollenden - als sogenannte Kardinaltugenden (Klugheit, Gerechtigkeit, Starkmut, Mäßigkeit) - den natürlichen Charakter.

Vielleicht finden wir wieder zu den verschollenen Traditionen zurück. Einstweilen müssen wir uns auf die Suche nach Tugenden in unserer Zeit begeben. Was wir durch den Verlust der Tradition an Menschlichem verloren haben, lernen wir allmählich. Aber wie finden wir den richtigen Weg zu

Verständigung?

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Der Autor ist Dritter Präsident des Wiener Landtages.

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