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Das Genie vor dem Röntgenschirm

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Die ersten Auflagen dieses Buches, das die Zeitgenossen in ähnlicher Weise beschäftigt hat wie die Standardwerke von Spengler und Weininger, erschienen bereits 1927, 1935 und 1942. — Nachdem Lange-Eichbaum 1950 gestorben war, hat Wolfram Kurth eine gründliche Revision und Ergänzung dieses merkwürdigen und einseitigen Werkes vorgenommen. Sie liegt nun als „4. Auflage, vollständig neu bearbeitet und um über 1500 neue Quellen vermehrt“, vor uns.

Auch in der neuen, ein wenig geglätteten und stellenweise objektivierteren Fassung ist das Buch von Lange-Eichbaum keine Lektüre für Jugend und Volk. Das- liegt in der Natur des Genieproblems, das — obwohl es im Salon und in der Publizistik ständig umhergeistert — ein durchaus esoterisches ist. Die Verbindung Genie-Irrsinn vollends kann nur von reifen Menschen, die die Wahrheit nicht fürchten, mit Nutzen ins Auge gefaßt werden. Trotzdem handelt es sich hier, von wenigen einzuklammernden Teilgebieten abgesehen, um kein „weltanschauliches“ Buch. Das Problem ist durch Schlagworte so vernebelt (und zwar durch Bodennebel), daß man für jede, von unbedingtem Wahrheitsstreben geleitete Untersuchung dankbar sein muß. Wer die Materie kennt, den wird Lange-Eichbaum in seinen pessimistischen Kombinationen nur bestärken und bestätigen. Wer sie nicht kennt und wem beim Lesen eine Welt von Illusionen zusammenzustürzen droht, der möge sich sagen lassen, daß die scheinbar „rationalistische“ Methode und Darstellung Lange-Eichbaums eben zwangsläufig die des Wissenschaftlers und des Psychologen ist, daß aber antiheroische Relativierung und Bildersturm keineswegs in der Absicht des Autors liegen.

Nach Erscheinen der 1. Auflage hat Gottfried Benn unter dem Titel „Das Genieproblem“ (jetzt in „Essays“, Limes-Verlag, Wiesbaden) die erste These Lange-Eichbaums folgendermaßen formuliert: „Genie wird nicht geboren, sondern entsteht. Nicht .die Anlage, die Leistung, auch nicht der Erfolg allein genügt, um .Genie' zu werden, sondern es muß etwas anderes hinzukommen, nämlich die Aufnahme bei der Gruppe, beim Volk, bei der Zeit, häufig einer späteren. Genie muß erlebt werden.“ — Also nicht Genie, sondern Geniewerdung heißt das Problem; im ganzen daher kein Wert-, sondern ein soziologisches Problem. Denn es geht nicht um die Erklärung des Genies, sondern um die Untersuchung: wie Ruhm entsteht. Lange-Eichbaum hat hierfür die Formel vom „Genieakkord“ gefunden, der sich aus folgen-' den „Einzeltönen“ zusammensetzt: Majestas. Energi-cum, Fascinans, Mirum, Tremendum und Sanctum (das Numinose); Genie, weltweiter Ruhm also, wird nicht ausschließlich abgeleitet von der Persönlichkeit des Künstlers, Staatsmannes oder Erfinders, nicht als psychobiologische Gegebenheit betrachtet, sondern als Funktionsbegriff, und zwar als soziologischer Begriff. (Eines der Hauptargumente ist, daß Ruhm selten von der geniehaften Leistung, bzw. allein von ihr ausgeht, sondern viel häufiger von Akzidentellem, etwa vom schicksalhaft Gezeichneten des Tragers, seinem „interessanten“ Leben, seiner auffallenden Erscheinung usw.)

Genie und Irrsinn ist der zweite Problemkreis, wobei Lange-Eichbaum unter „Irrsinn“ auch den „sogenannten Irsinn“ versteht, das heißt alles irgendwie Pathologische, von der Norm abweichende, einschließlich der seelischen Ausnahmezustände. Der dritte Hauptteil des Werkes, der von einer Auseinandersetzung mit Lombroso eingeleitet wird, definiert medizinisch und psychiatrisch den Begriff der seelischen Krankheit und unterscheidet: Psychose, Psychopathie, Neurose, psychische Ausnahmezustände, psychische Epidemien usw. Auf Grund eines reichen dokumentarischen Materials kommt Lange-Eichbaum dann zu der erregenden und beunruhigenden Erkenntnis vom Zusammenhang des Genialen und Bio-negativen. Auch hier wird er dem, der auch nur ein Dutzend wissenschaftlicher Künstlermonographien gelesen hat, nichts grundsätzlich Neues sagen. Das Schockierende kommt von der Materialanhäufung.Ich zitiere noch einmal Dr. Benn, der als Arzt und Künstler ein Experte besonderer Art auf diesem Gebiet ist: „Es drängt sich das Bild auf — hier die Vagabunden, die Alkoholiker, die Armenhäusler, die Henkelohren, die Huster, die kranke Horde — und dort-Westminsterabtei; Pantheon und Walhalla, wo -flirre IMfeterHfilherh nii Uifefl?

Das Beweismaterial, 460 Pathographien von „Berühmten“ (gegenüber 200 in den vorhergehenden Auflagen) nimmt breiten Raum ein (S. 270—450). Es sind meist kurze, stichwortartig formulierte Krankengeschichten, gestützt auf Zitate aus Monographien, Fachartikeln, medizinischen oder psychopathologi-schen Untersuchungen und Befunden. Hier hat der Herausgeber Wolfram Kurth eine immense Arbeit geleistet, aber sie weist naturgemäß Lücken und Fehler auf — denn es ist für einen einzelnen ein uferloses Gebiet Künstler wie E. A. Poe, Robert Schumann, Strindberg, Richard Wagner, Van Gogh, Oscar Wilde, Hölderlin, Kleist, E. T. A. Hofmann oder Rousseau liefern ein dankbares und gut ausgewertetes Material, ebenso wie Nietzsche, Napoleon, Wilhelm II. Hitler u. a. Zu flüchtig behandelt erscheinen Puccini (allein, was in der Biographie von Frank Thieß steht!), Georg Trakl, Gauguin, Mahler (sehr laienhaft charakterisiert als „deutsch-amerikanischer“ Komponist, Dirigent) und viele andere. Breiter Raum war in den vorhergegangenen und ist auch in dieser Auflage der Gestalt Jesu gewidmet. Der Herausgeber betont, daß er dieses Kapitel auf dringenden Rat von theologischer Seite nicht eliminiert hat, sondern sich darauf beschränkte, das aus vornehmlich evangelischen theologischen Werken stammende Material neu zu sichten, die Ergebnisse der neuesten historischen Forschung breit referierend wiederzugeben und die umstrittenen Thesen Lange-Eichbaums einzuklammern. Bereits im Vorwort weist der Herausgeber taktvoll auf eine gewisse Tragik in Leben und Werk Lange-Eichbaums hin, und es bleibt den Worten Wolfram Kurths noch hinzuzufügen, daß sich gerade in diesem Kapitel, auch bei „Paulus“, „Jeanne d'Arc“ und anderen zeigt, daß Lange-Eichbaum für ganze Grunddimensionen des Göttlichen und Menschlichen blind war. Dies ist einer der Hauptgründe, weshalb man das Werk nut in der Hand reifer, weltanschaulich gefestigter und theologisch geschulter Leser zu sehen wünscht.

Vorbehaltlos anerkannt muß die Arbeit und Akribie des Herausgebers werden, mit der er das Quellenverzeichnis (S. 451—580) zusammengestellt und von 700 Titeln (der ersten Auflage) auf 4100 der vorliegenden erweitert hat, von denen 3 500 ausgewertet wurden. Dem Verlag gebührt Dank für den sorgfältigen Druck und die vorbildliche Ausstattung des Werkes.

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