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Dichtung im Herbst des Mittelalters

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DIE DEUTSCHE LITERATUR IM SPÄTEN MITTELALTER. Zerfall und Neubeginn. Von Helmut de B o o r. Erster Teil-1250 bis U50. In: Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart von Helmut de Boor und Richard N e w a I d. Dritter Band, erster Teil. C. H. Becksche Verlagsbuchhandlung, München, 1962. 590 Seiten. Preis 29 50 DM geheftet 24.50 DM.

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DIE DEUTSCHE LITERATUR IM SPÄTEN MITTELALTER. Zerfall und Neubeginn. Von Helmut de B o o r. Erster Teil-1250 bis U50. In: Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart von Helmut de Boor und Richard N e w a I d. Dritter Band, erster Teil. C. H. Becksche Verlagsbuchhandlung, München, 1962. 590 Seiten. Preis 29 50 DM geheftet 24.50 DM.

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schichte der deutschen Literatur, von de'i bisher fünf Bände vorliegen, hat eint wichtige Aufgabe innerhalb der Geschichtsschreibung der deutschen Literatur zu erfüllen: Sie vereinigt Darstellung, Zusammenfassung der neuesten Forschungsergebnisse mit pädagogischem Geschick, das auch dem Studenten manches hilflose Suchen ersparen kann. Der vorliegende Band mußte die schwierige Aufgabe lösen, ein wenig bekanntes und durchforschtes Material zu sammeln und zusammenzufassen.

Gegenüber der klassischen Epoche ist der Stoff und der kulturelle Hintergrund breiter ausgeführt worden. Um 1350 sind die letzten inhaltlichen und formalen Anstöße der Stauferzeit nach Ansicht des Verfassers ausgeschwungen, deshalb hier der Einschnitt seiner Darstellung des Spätmittelalters. Der Band behandelt demnach zweierlei: den Ausklang der höfischen Gattungen und Formen sowie das neu sich Ankündigende: die lehrhafte und religiöse Dichtung.

Das größte Ereignis der Epoche ist die Wendung vom Vers zur Prosa, welche jedoch erst im zweiten Teil zu Ende behandelt werden soll. Das Ziel, das hier zu erreichen war, nämlich einmal „eine lesbare und geordnete Gesamtübersicht“ dieses Zeitraumes vorzulegen, mußte trotz ungünstiger Voraussetzungen (vieler ungelöster editorischer Probleme und Interpretationsfragen) angesteuert werden. Das Wagnis darf als gelungen bezeichnet werden. Wenn der Gebildete im allgemeinen über die höfische Zeit Bescheid weiß, so eröffnet de Boor mit diesem Band eine großartige Einsicht in eine Welt, die ge} wohnlich auch Gebildeten nur schattenhaft unzugänglich bleibt: Es ist die gegenüber der klassischen Kunst nicht minder großartige Welt der Legenden- und Erzählstoffe, die sich hier glänzend dargeboten findet, wie sonst an keiner anderen Stelle. Nicht nur, daß mit den ersten vier Kapiteln der Ausklang der großen Epik und deren Durchdringung mit dem Abenteuerlichen und Erbaulichen sichtbar wird; schon öffnet sich über die Brücke der Chronisten und der Geschichtsdichtung die neue Welt der Novellen eines Stricker, Konrad von Würzburg und anderer. Der ganze Zauber dessen, was man später „Geschichte“ nennt, wird allmählich bloßgelegt. Mit religiöser Dichtung, vor allem dem unerschöpflichen Reichtum der Legendendichtung, wird diese großartige Stoff- und Motivübersicht abgeschlossen.

Eine Hauptfrage ist, wieweit heute noch die Etikette des Epigonentums und des Eklektizismus für die dargestellte Epoche gültig sein kann. De Boor geht hier weit über die üblichen oberflächlichen Schemata hinaus und spricht unter anderem von „preziösem Manierismus“ S. 22) zumal in höfischer Spätzeitdichtung (Nei-fen, Winterstetten, Lichtenstein, Konrad von Würzburg, Jüngerer Titurel, Wartburgkrieg, Lohengrin, späte Spruchdichtung). Wolfram von Eschenbachs Altersstil, Gottfried von Straßburgs Klangspiele bereiten die Entwicklung zum Übersteigerten und Manieristischen vor. Die Parallele zum Barock wird als „nicht zu Unrecht gezogen“ bewertet, da das Seltene, Verwirrende. Dunkle und Überraschende in Stil und Bildsprache aufzutreten beginnt. Hier bereitet sich das vor. woran dann Martin Dpitz ejst wieder reformierend anknüpfen konnte: die mechanische Silbenzählung bei Vernachlässigung des Worttons. Besonders zu rühmen ist die Darstellung der feinen, den Geschichtskörper in allen seinen Mantelfalten nachzeichnenden Verschie-jungen der literarischen Aspekte.

Großes Gewicht legt de Boor auf die Auffassung der Poesie als Teil der Rhetorik, was heißt: Dichtung in erster Linie d Form zu verstehen. Hier, im 13. Jahr-lundert, kündigt sich nun schon eine reine Formkunst an, deren Künsteleien lann über das Barock bis in die Moderne weiterhin immer wieder neu auftreten iverden. Und wenn auf S. 52 sogar vom .Wortkunstwerk“ gesprochen wird, ist da-nit auch schon das Stichwort gefallen, das lern Leser des 20. Jahrhunderts die wissenschaftliche „Aktualität“ des in Frage stehenden Zeitraums enthüllt. Es ist mit Händen zu greifen, wie sich bei diesen ds bloße „Epigonen“ verkleinerten Dich-:ern, wie Konrad von Würzburg, Heinrich iron Neustadt und Albrecht, dem Dichter ies jüngeren Titurel, die neu heraufkommende Epoche von Renaissance und Barock zwar erst nur leise, aber dennoch mkündigt. Das ist eine höchst wertvolle Einsicht. Die vorsichtig abwägende Art des Verfassers, weit davon entfernt, zu übertreiben oder sich im ruhigen Abwägen itören zu lassen, besitzt gerade in seiner Ruhe große Überzeugungskraft.

Das Auseinanderfallen von reiner Formkunst und großer Stoffhülle, das in diesem Zeitraum so betont wird, bricht der ganzen weiteren Entwicklung der deutschen Literatur die Bahn. Selbst die so modern anmutende Mischung phantastischer und realistischer Weltdarstellung findet sich schon in Heinrichs Äpollonius-Roman.

Das Buch liest sich, das Interesse für den Gegenstand vorausgesetzt, sehr „spannend“, ohne daß hier die heute so virtuos gehandhabten Popularisierungskünste verwendet würden. Strengste Wissenschaftlichkeit und höchste methodische Sauberkeit ließen hier ein Werk entstehen, das auch dem Kenner ein überraschend reichhaltiges Bild dieser Epoche entrollt. Die stoffliche Fülle an Themen und Motiven ist für den Geist dieser Zeit überaus bezeichnend. Und was ein wirklicher Gewinn ist: Man begreift, daß diese reiche Fülle von Erzählmotiven nicht etwa eben „bloßer“ Stoff sei, nicht mehr die Form ist es, die hier allein Dichtung macht, der Stoff selbst enthält schon Dichtung. Deshalb ist dieses Buch ein sehr wichtiges Auskunftsmittel über den Reichtum des abendländischen Erzählgutes im „Herbst des Mittelalters“.

Der Neugermanist jedenfalls blickt vom Standpunkt der neuzeitlichen Dichtung, ja von Barock und Romantik her in die Geburtsstunde einer entscheidenden Wiederanknüpfung an die literarischen Möglichkeiten, wie sie von der Spätantike entwickelt wurden. (E. R. Curtius hat sie in seinem Buch über „Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter“ treffend beschrieben.) Eine Hauptbedeutung des Buches liegt darin, die Literatur des Spätmittelalters in ihrer Kunstleistung sichtbar gemacht und zusammengefaßt zu haben. Diese künstlerischen Möglichkeiten und Techniken eröffnen den Zugang zu all dem, was dann nachher gekommen ist. So wird dieses Buch zur wichtigen Quelle der Belehrung auch für den Neugermanisten.

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