Die ÖVP begeht demnächst ein Jahr Michael Spindelegger als Parteiobmann und ist durch die Enthüllungen des Untersuchungsausschusses schwer angeschlagen. Kraft zu programmatischer Erneuerung ist keine zu spüren.
Was heißt konservativ? Die Frage ist nicht neu. An ihr arbeiten sich bürgerliche Quer- und Vordenker in diversen Vorfeldorganisationen und Thinktanks seit Langem ab. Manche halten das für obsolet: Heute lasse sich auch nicht mehr "einigermaßen beschreiben […], was ‚bürgerlich‘ heißt“, meint Michael Fleischhacker in der Presse. Auch das ist nicht neu. Die Debatte darüber, was alles nicht mehr "bürgerlich“ sei, begleitet uns seit Jahren. "Die Marktwirtschaft ist nicht mehr bürgerlich“, befand etwa der konservative Publizist Jan Ross in der damals noch klar linksliberal orientierten Zeit. Das war anno 1998, also lange bevor FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher & manche seiner Adepten aufmerksamkeitsökonomisch durchaus erfolgreich den Linken in sich entdeckten.
Drei Weise für die ÖVP
In Österreich erhielt der einschlägige Disput neue Nahrung durch den Zusammenfall eines bevorstehenden Jahrestags mit der tagespolitischen Agenda. Im April jährt sich zum ersten Mal der Rückzug von Josef Pröll aus der Politik, in dessen Folge Michael Spindelegger an die Spitze der Partei gespült wurde. Und durch die Arbeit des laufenden Untersuchungsausschusses steht die ÖVP (aufmerksamkeitsökonomisch übrigens durchaus unerfolgreich) in der öffentlichen Wahrnehmung so da, als wäre der Korruptionssumpf in diesem Land (fast) monochrom schwarz. Bei allem Respekt für die redliche Absicht, die wir gerne annehmen wollen: Herbert Sausgruber, Maria Schaumayer und Wolfgang Mantl werden die ÖVP ebensowenig retten können, wie weiland die Weisen Gerd Bacher, Alfred Payrleitner, Fritz Csoklich und Heinrich Keller den ORF. Und Spindelegger, der in dieser Zeitung entgegen den fast einhellig verteilten "Vorschusszitronen“ (oder "-gurken“) zumindest freundlich abwartend empfangen worden ist, erweckt zwar den Eindruck, die eingangs gestellte Frage für sich persönlich einigermaßen beantwortet zu haben, nicht aber, dies seiner Partei geschweige denn breiteren Wählerschichten kommunizieren zu können.
Die Kernfrage für das Überleben der ÖVP ist, ob noch irgendjemand in diesem Land oder wenigstens die Partei selbst daran glaubt, dass es eine sinnvolle und plausible Alternative zu jenem "Sozialismus mit freundlichem Antlitz“ gibt, den Werner Faymann formvollendet repräsentiert, der aber cum grano salis natürlich quer durch Europa den Mainstream bildet. Wenn nicht, dann ist die ÖVP schlicht überflüssig. Dass es jedenfalls ein Sensorium dafür gibt, wenn jemand von diesem Mainstream abweicht, konnte man jüngst in Deutschland sehen: In die allgemeine große Zustimmung und Erleichterung über die Wahl von Joachim Gauck zum Bundespräsidenten mischten sich - keineswegs nur seitens der "Linken“ - schon die ersten Misstöne: Freiheit und Verantwortung, gut und schön - aber sonst? Wo bleibt das Soziale? Sitzt jetzt gar ein "Marktradikaler“ in Schloss Bellevue? Man darf davon ausgehen, dass, sollte Gauck sich nicht untreu werden, der politisch-korrekte Gesang noch anschwellen wird …
Ja, Freiheit und Verantwortung gehören zusammen - sie bilden das Substrat für Demokratie und Marktwirtschaft, die - gerahmt vom Rechtsstaat - ebenfalls zusammengehören: Dies sind die Eckpfeiler bürgerlicher (oder konservativer; die gestrengen Herren von der "Initiative Christdemokratie - ICD“ mögen mir mein unscharfes Wording verzeihen) Sichtweise.
Ganz neu aufsetzen
Das ist kein Projekt. Dahinter steht keine Bewegung, da wird nichts ersehnt "von der Zukunft Fernen“ - es gründet sich schlicht auf die empirisch gestützte Überzeugung, dass diese Pfeiler in der Geschichte nie dagewesenen Wohlstand und Lebenschancen befördert haben, während vieles, was prima vista als "sozial“ oder "gerecht“ erscheint, Nivellierung nach unten bedeutet. Die ÖVP hat wahrscheinlich gar nicht mehr die Kraft für solche programmatischen Überlegungen. Dann freilich wäre es besser, das Ding auf der grünen Wiese völlig neu aufzusetzen - wie immer, wenn eine überkommene Marke ihre Stärke verloren hat. Ob das dann noch ÖVP heißt, ist zweitrangig.
* rudolf.mitloehner@furche.at
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