Das Phänomen IS hat viele, die sich mit dem Thema Islam und Muslime beschäftigen, im Jahre 2014 negativ überrascht. Diskutiert wurde viel über Gewalt im Islam und über die Muslime als mittelbar oder unmittelbar für Gewalt und Terror Verantwortliche. Von muslimischer Seite verstärkte sich wiederum der Opferdiskurs. Die einen haben Angst vor dem Islam und äußern Kritik, die anderen fühlen sich durch die Kritik angegriffen und in eine Opferrolle gedrängt. Jenseits von Schuldzuweisungen redet jedoch kaum jemand über das Eigentliche. In meinen Augen besteht das Eigentliche in Wertesystemen. Ein hegemoniales Wertesystem, das rücksichtslos nach Macht (in allen Varianten und Ausprägungen: politische und wirtschaftliche Macht, persönliche Geltungssucht, Erfolg um jeden Preis usw.) strebt, steht allen, Individuen wie Kollektiv, im Weg.
Der Mensch wird auf seine Leistung reduziert, Staaten auf ihre Machtressourcen und Religionen auf ihre Effektivität, Machtstrukturen aufrechtzuerhalten. Kritik und kritische Ansätze bleiben unerwünscht. Das Problem liegt nicht im Denken von IS, sondern im Kopf von jedem, der meint, nur weil er eine andere Weltanschauung vertritt, besser als andere zu sein.
Selbstverständlich können Ideen und Argumente miteinander konkurrieren. Die entscheidende Frage ist, worum sollen diese konkurrieren? Und da gibt es nur eine vertretbare Antwort: um das Wohlergehen des Menschen. Die Weltanschauung, egal welche, die im real gelebten Leben, mehr zur Glückseligkeit des Menschen beiträgt, ist diejenige, die die besseren Argumente hat. Es geht um ein Ringen um das Wohl des Menschen. Viele religiöse Menschen haben das missverstanden und gehen davon aus, dass es um ein Ringen um Gott geht, im Sinne von: "Wem gehört Gott -mir oder dir?" Nein! Er gehört nur jenen, die an sein Projekt Mensch glauben.
Der Autor leitet das Zentrum für Islamische Theologie an der Uni Münster
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