Die Gemeinwohl-Ökonomie

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Ein neues Konzept zur Veränderung des ökonomischen Verhaltens der Gesellschaft: Ziel ist es, den Akteuren der Wirtschaft Anreize zu geben, ökologisch, demokratisch und sozial zu handeln.

Die vielen Gesichter der Krise haben eine gemeinsame Wurzel: Geldkrise, ökologische Krise, Verteilungskrise, Demokratiekrise, Sinn- und Wertekrise hängen zusammen und wohnen dem gegenwärtigen Wirtschaftssystem inne. Immer mehr Akteure erkennen, dass das System falsch gepolt ist und auf destruktiven Spielregeln beruht: Unternehmen konkurrieren gegeneinander, um den höchsten Finanzgewinn. Das ist absurd, weil ein höherer Finanzgewinn nichts darüber aussagt, ob die Lebensqualität und das Gemeinwohl gemehrt oder vermindert werden: Bessere Finanzergebnisse können mit weniger Arbeitsplätzen, zerstörter Umwelt, steigender Armut, zunehmender Krankheit und Kriminalität einhergehen.

Die multiple Krise ist daher auch eine Chance, die Grundkoordinaten, auf denen das Wirtschaften beruht, zu hinterfragen und neu zu organisieren. Heute ist die fundamentale Anreizstruktur der kapitalistischen Marktwirtschaft die Kombination aus Gewinnstreben und Konkurrenz. Diese Kombination fördert tendenziell nicht die Werte und Verhaltensformen, die unsere zwischenmenschlichen Beziehungen gelingen lassen: Vertrauensbildung, Verantwortung, Mitgefühl, Kooperation und gegenseitige Hilfe; sondern tendenziell die gegenteiligen: Egoismus, Gier, Geiz, Rücksichts- und Verantwortungslosigkeit. Die Marktgesetze belohnen heute die falschen Werte.

Deshalb wäre es vernünftig, die Anreizstruktur für die Wirtschaftsakteure „umzupolen“: Finanzgewinn sollte nicht mehr das zentrale Ziel von Unternehmen und Konkurrenz nicht mehr der vorherrschende Beziehungsmodus sein. Stattdessen sollten alle (privaten) Unternehmen Gemeinwohl als neues Ziel direkt anstreben und für kooperatives Verhalten belohnt werden.

Gemeinwohlstreben und Gemeinwohlbilanz

Als erster Schritt müsste dafür „Gemeinwohl“ definiert werden – in einem möglichst breiten demokratischen Prozess. Dafür gibt es erfreulich übereinstimmende Vorarbeiten: „Berührungsgruppen“ (Stakeholder) wünschen sich weltweit von Unternehmen umfassende soziale Verantwortung, ökologisch nachhaltiges Wirtschaften, innerbetriebliche Demokratie sowie Solidarität mit allen Berührungsgruppen. Dieses neue Verständnis von unternehmerischem Erfolg müsste in einem zweiten Schritt gemessen werden können. Mehr als zwei Dutzend Attac-UnternehmerInnen haben fast zwei Jahre an einem Entwurf für die „Gemeinwohlbilanz“, dem Herzstück der Gemeinwohl-Ökonomie, getüftelt, die gleich einer Matrix Grundwerte auf der X-Achse (z. B. Menschenwürde, Nachhaltigkeit, Demokratie) mit „Berührungsgruppen“ (Stakeholder) auf der Y-Achse (z. B. Mitarbeitende, KundInnen, Zulieferer) schneidet. In den Schnittfeldern befinden sich Kriterien, die unternehmerischen „Erfolg“ neu messen. Die „Erfolgreichen“ in der neuen Bedeutung könnten sodann systematisch belohnt werden: Wer zum Beispiel 100 Prozent der Vorprodukte aus der Region bezieht; gleich viele Frauen in den Führungsgremien hat wie Männer; für gleichen Arbeitseinsatz gleichen Lohn bezahlt; die Beschäftigten mitbestimmen lässt; mehrere Menschen mit besonderen Bedürfnissen einstellt; KundInnenvertreterInnen in die Planung einbezieht; offen kalkuliert; Know-how freiwillig an die Mit-Unternehmen weitergibt; erhält „Gemeinwohl-Punkte“. Je höher die Gemeinwohlpunktezahl, desto „wärmer“ ist die Gemeinwohl-Farbe des Unternehmens und desto größer sind die rechtlichen Vorteile, zum Beispiel: günstigerer Steuersatz; niedrigerer Zoll-Tarif (z. B. fairer Handel); günstigerer Kredit bei der „Demokratischen Bank“; Vorrang beim öffentlichen Einkauf; Forschungskooperation mit öffentlichen Universitäten.

Neben dem Gesetzgeber haben auch die KonsumentInnen eine klare Orientierung für die Kaufentscheidung, da die Gemeinwohl-Farbe auf jedem Produkt aufscheint. Drittens erhalten Unternehmen umso mehr Gemeinwohl-Punkte, je „wärmer“ die Farbe ihrer Zulieferer und Geldgeber ist: Eine Aufschaukelungsspirale kommt in Gang: Je sozialer, ökologischer, demokratischer und solidarischer sich Unternehmen verhalten, desto leichter werden sie es in Zukunft haben.

Finanzbilanz zur Nebenbilanz

Da es in der Gemeinwohl-Ökonomie Geld und Produktpreise geben wird, werden alle Unternehmen auch weiterhin eine Finanzbilanz erstellen – jedoch als Nebenbilanz. Geld und Gewinn sind nicht mehr das Ziel, sondern nur noch ein Mittel für ganz bestimmte erlaubte Verwendungen. Überschüsse („Gewinn“) dürfen nach wie vor eingesetzt werden für 1. (begrenzte) höhere Entlohnung der Mitarbeitenden; 2. Rückzahlung von Krediten; 3. (begrenzte) Rückstellungen; 4. (zinsfreie) Darlehen an Mitunternehmen. Das ist kein Unterschied zu heute. Nicht mehr erlaubt sind hingegen folgende Gewinn-Verwendungen: 1. Ausschüttung an EigentümerInnen, die nicht im Unternehmen mitarbeiten; 2. „Investitionen“ auf den Finanzmärkten – das Geld muss zur „Demokratischen Bank“ oder anderen Gemeinwohlbanken; 3. feindliche Übernahmen; 4. Parteispenden.

Damit wären die schädlichen Verwendungen des Gewinns ausgeschaltet, und Gewinn vom allbeherrschenden Zweck auf ein dienendes Mittel „neutralisiert“. Mit dem ersten Punkt, dem Ausschüttungsverbot an nichtarbeitende EigentümerInnen, würde dem Kapitalismus das Genick gebrochen. Wer Geld verdienen will, muss in der Gemeinwohl-Ökonomie prinzipiell dafür arbeiten. Das wird jedoch leichter, weil die Unternehmen a) nicht um die Wette Kosten minimieren, b) alle Menschen je Erwerbsdekade ein „Freijahr“ mit Grundeinkommen in Anspruch nehmen können und c) Einkommen und Vermögen werden gleicher verteilt sein als heute, durch folgende „negative Rückkoppelungen“ oder Schranken für die Ungleichheit:

Die Maximaleinkommen werden mit dem 20-fachen des gesetzlichen Mindestlohns (ungefähr 1250 Euro netto) festgesetzt;

Privatvermögen werden mit zehn Millionen Euro begrenzt;

Ab 250 Mitarbeitenden gehen Unternehmen sukzessive in das Eigentum der Beschäftigten und der Gesellschaft über; ab 5000 Beschäftigten zur Gänze.

Erbschaften werden auf eine halbe Million Euro begrenzt, Anteile an Familienbetrieben auf zehn Millionen Euro; der Überschuss geht als „Demokratische Mitgift“ zu gleichen Teilen an alle Mitglieder der neuen Generation.

Damit herrscht noch lange keine ökonomische Gleichheit, aber bedeutend weniger Ungleichheit und mehr Chancengleichheit als heute. Tendenziell werden die Unternehmen von allen Menschen mitbesessen und mitgesteuert. Verantwortung und Risiko lasten dadurch nicht auf wenigen Schultern wie heute (obwohl die SteuerzahlerInnen in prominenten Fällen zu den Letztverantwortlichen mutiert sind), sondern sind auf zahlreiche Köpfe feiner verteilt.

Von der Kontra- zur Konkurrenz

Die Folgen für das Wirtschaften wären revolutionär. Hier nur die drei wichtigsten:

1. Da Finanzgewinn nicht mehr das Ziel von Unternehmen ist, ist auch Wachstum kein sinnvolles und nötiges Ziel mehr. Die Wirtschaft wäre vom Wachstums- und Fresszwang erlöst!

2. Wir würden uns dem annähern, was „Konkurrenz“ im Lateinischen bedeutet: nicht gegeneinander agieren, sondern „miteinander laufen“. In der Gemeinwohl-Ökonomie werden Unternehmen dafür belohnt, dass sie kooperieren.

3. Die heutige Systemdynamik – die Kombination aus Gewinnstreben und Kontrakurrenz – fördert in der Tendenz egoistische, gierige, geizige, verantwortungs- und rücksichtslose Charaktere. „Polen“ wir die Systemdynamik von „Eigennutzmaximierung und Konkurrenz“ auf „Gemeinwohlstreben und Kooperation“ um, wird die Systemdynamik die sozial verantwortlichsten und kompetentesten Menschen tendenziell begünstigen und „kulturell selektieren“. Diesen Schritt sollten wir uns als Gesellschaft wert sein!

Die Grundlagen der „Gemeinwohl-Ökonomie“ wurden im Buch „Neue Werte für die Wirtschaft. Eine Alternative zu Kommunismus und Kapitalismus“ gelegt. Daraufhin meldeten sich rund zwei Dutzend UnternehmerInnen, die die Attac-UnternehmerInnen-Gruppe gegründet und sich an der Ausarbeitung und Konkretisierung des Modells, insbesondere der „Gemeinwohl-Bilanz“ beteiligt haben. Im Buch scheinen bereits 70 Betriebe als Erstunterzeichnende auf. Weitere UnterstützerInnen und MitentwicklerInnen sind willkommen, sie werden auf Wunsch auf der gleichnamigen Website veröffentlicht. Im begleitenden „Energiefeld Gemeinwohl-Ökonomie“ können sich auch Nicht-UnternehmerInnen für das Modell engagieren – mit Lesekreisen, Internet-Foren, Veranstaltungen und regionalen Arbeitsgruppen.

Gemeinwohl Ökonomie

Das Wirtschaftsmodell der Zukunft

Deuticke-Verlag, August 2010

150 Seiten, brosch., e 15,90

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