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Die Visitenkarte

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Die neue Bundesregierung hat ihre Visitenkarte abgegeben. Vor den dichtbesetzten Bänken des National- und Bundesrates verlas Bundeskanzler Ing. Raab die Regierungserklärung des von ihm geführten Kabinetts. Und nicht nur vor diesem. Zum erstenmal in der Geschichte des österreichischen Parlamentarismus war auch ein stummer, lebloser, aber sehr hellhöriger Gast im Plenum: das Mikrophon, durch das die Hörer aller österreichisehen Sender, viele tausende Wähler in Stadt und Land, die Worte des Mannes am Steuer zugetragen bekamen.

Der neue Regierungschef ist als ein Mann nüchterner Ueberlegungen, dem alles falsche Pathos fremd ist, bekannt. Nüchtern und wohlüberlegt waren auch seine Ausführungen. Da in den letzten Wochen und Monaten im Vordergrund der innenpolitischen Diskussionen vorwiegend wirtschaftliche Fragen standen, verwunderte es niemand, daß diese auch in der Regierungserklärung“ einen breiten Raum einnahmen. Breit und gewichtig das Problem der Arbeitsbeschaffung, durch Maßnahmen, die die „Stabilität der Währung mit wirtschaftlicher Expansion und hohem Beschäftigungsstand vereinen“. Ein Weg dazu: das „Energieanleihegesetz“ zum Ausbau der österreichischen Wasserkräfte, das ja auch bereits im Mittelpunkt von Beratungen steht. Ein „S p a r b e g ü n s t i-gungsgesetz“ wurde für die nahe Zukunft angekündigt und auch der unter einer überholten Progression leidende Steuerzahler bekam gute Botschaft. In dem Programm einer österreichischen Regierung konnte auch nicht die Erwähnung der Not an Wohnraum, wie die Maßnahmen zur Bekämpfung dieses beinahe schon chronischen Uebels fehlen. Allem Anschein nach wird 'hier, entsprechend dem Kräfteverhältnis in der Regierung, weiterhin zweigleisig gefahren, öffentlich und — hoffentlich verstärkt — privat gebaut werden. Der Gedanke, daß die arbeitenden Menschen ein Recht auf einen gesicherten Lebensabend, daß die Gemeinschaft die Pflicht hat, dieses ihnen zu garantieren, wird heute wohl von keiner Seite mehr Widerspruch begegnen. Recht und billig ist es daher nur, wenn die Altersversicherung auch auf jene Personen ausgedehnt werden soll, die nicht zum Kreis der Lohnempfänger gehören. Mit besonderer Genugtuung, mehr noch mit Freude aber begrüßen es gerade die Katholiken, daß eine ihrer Herzensanliegen, der Schutz der Familie, zum erstenmal Eingang in ein Regierungsprogramm gefunden hat, daß an Stelle der Bestrafung der kinderreichen Familie, ihre Förderung treten soll. Endlich! Wenn der Bundeskanzler seiner Hoffnung Ausdruck gegeben hat, „daß auf kulturpolitischem Gebiet auch die noch ungeklärten Fragen einer einvernehmlichen Lösung zugeführt werden können“, so sei es erlaubt, sich dieser Hoffnung mit Nachdruck anzuschließen. Wer in den letzten Monaten, die erfüllt waren von harten Auseinandersetzungen zwischen den beiden großen Parteien, die sich jetzt wieder an einem Tisch zu gemeinsamer Arbeit gefunden haben, die Sorge nicht los würde, es könnte ein bedauerlicher Rückfall in eine Mentalität eintreten, die schon einmal unser Unheil war, die Oesterreich in zwei nebeneinander lebende und gegeneinander streitende annähernd gleichstarke „Nationen“ teilte — heute mehr denn je der Anfang vom Ende —, schöpft neuen Mut:

„Ich richte im Namen der Bundesregierung an die österreichische Arbeiterschaft das Ersuchen, auch in Zukunft wie bisher am Aufbau unseres österreichischen Staates mitzuarbeiten. D i e Entwicklung in der Nachkriegszeit hat ja den Begriff der Gegensätzlichkeiten zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer wesentlich gemildert und auf beiden Seiten das Verständnis für die Aufgaben und Schwierigkeiten der anderen Seite geweckt. Die Regierung wird sich bemühen, diesen Weg, der bisher so erfolgreich in Oesterreich beschritten wurde, auch in der Zukunft gemeinsam mit allen aufbauwilligen Kräften fortzusetzen.“

Das sind nicht nur Worte, goldene Worte des Bundeskanzlers, das ist der Text der offiziellen Erklärung der Regierung Raab-Schärf, er trägt also auch sozialistische Unterschriften. Das verdient gesondert festgehalten zu werden. Als ein Staatsbegräbnis für den Klassenkampf — im alten, klassischen Sinn der sozialistischen Theoretiker. Hier und nirgends anders öffnet sich der Weg, der ins Freie, in eine bessere Zukunft führt.

Keine Regierung im besetzten Oesterreich, die nicht auch von ihr, von der Freiheit und von dem Kampf für sie spricht. Und inmitten aller sachlichen Fakten des politischen Alltags bekam die Stimme des Regierungschefs einen besonderen Klang, als er von dem „unbändigen Freiheitswiüen“ des österreichischen Volkes sprach, das „auf seinem Territorium nur eine Fahne sehen will: die rot-weißrote!“

Wichtige Nahziele, die das Kabinett Raab-Schärf — wir wählen mit Bedacht immer wieder diese Bezeichnung, entspricht sie doch auch den Intentionen des Bundeskanzlers, der Wert auf eine gleichmäßige Verteilung der Verantwortung legt — anstrebt, sind abgesteckt. Ueber den Weg zu ihnen allerdings gehen die Meinungen noch da und dort, wie die der Regierungserklärung folgende parlamentarische Aussprache erwies, zwischen den Koalitionsparteien auseinander. Eines steht fest: Die politische Entwicklung wird dadurch bestimmt werden, ob es gelingt, aus dem System der gegenseitigen Belagerung auszubrechen und zu einer ehrlichen Arbeitsgemeinschaft zwischen Männern, die wissen, was der Gemeinschaft gerade in diesen entscheidenden Stunden der Weltpolitik not tut, zu gelangen. „Heraus aus der Schneegrube.“ Dieser Ruf Seipels zu einem klaren, feste Punkte umfassenden gemeinsamen Arbeitsprogramm wurde schon einmal in den Spalten dieses Blattes erhoben. Jetzt, nach der Abgabe der Visitenkarte durch das neue Kabinett, sei er in Erinnerung gerufen. —.

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