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Führt Not oder Reichtum zum Geburtenschwund?

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Große geschichtliche Ereignisse und tiefgehende Zeiterscheinungen lassen sich zumeist nicht auf eine, sondern auf eine größere Anzahl wirkender Ursachen zurückführen, die dann allerdings zumeist je nach Weltanschauung, Partei- oder sonstigen Interessen mehr oder weniger hervorgehoben oder geleugnet werden. Nun ist eine solche Hervorhebung zur genauen Beurteilung jedes einzelnen dieser Faktoren aber notwendig und wird erst dort bedenklich, wo der Versuch auftritt, eine Teilkraft absolut zu nehmen und dabei den Blick für das Gahze zu verlieren. Es soll daher im folgenden nur vom Einfluß des Lebensstandards auf die Bevölkerungsentwicklung die Rede sein, zumal gerade hier noch die Meinungen einander widersprechen, während etwa die Bedeutung ggistig-religiöser Faktoren auf diesem Gebiet heute schon wesentlich klarer zutage tritt.

Die Anhänger der sozialen Theorie führen die sinkenden Geburtenziffern vor allem auf die Not der Zeit zurück und versuchen ihre Ansicht durch vergleichende statistische Angaben aus Zeiten der Konjunkturen und Krisen zu erhärten. Die Biologisten wiederum erklären, daß gerade ein hohes Lebensniveau degenerierend Wirke, und führen zum Beweis die starke Geburtlichkeit primitver Natur- oder auch armer Kulturvölker ins Treffen. Wieder einmal stehen Ziffern gegen Ziffern, wieder einmal zeigt sich, daß Statistik alles — oder nichts beweist! So stehen etwa die reichen Franko-Kanadier zusammen mit den armen Chinesen an der Spitze, andererseits aber das reiche Schweden mit dem ausgepowerten Österreich am unteren Ende der Geburtenstatistik.

Es ist also nicht möglich, einfach die Not oder den Wohlstand schlecht h i n als positiven oder negativen Faktor in die Berechnung einzusetzen. Trotzdem existiert so etwas wie ein „kritischer Lebensstandard“.

Bei genauem Zusehen lassen sich nämlich die nachwuchsfreudigsten Völker in zwei Gruppen einteilen:

1. Naturhaft wachsende, bei denen rationalistisches Denken (Gedanken über die Žukunft der Kinder und dergleichen) keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielt.

2. Ausgesprochen wohlhabende, deren Lebensniveau auch bei Zukunftssicherung für mehrere Kinder den Familien nur den Verzicht auf exzessiven Luxus, nicht aber auf die Grundbedürfnisse des Lebens auferlegt.

Andererseits gehören die Länder mit tark reduzierter Geburtlichkeit (mit Ausnähme der nordischen Staaten, für deren Nachwuchsschwäche ein Zusammenwirken von geistigen und biologischen Faktoren maßgebend sein dürfte) fast durchwegs jener Mittelgruppe an, zu der heute die meisten europäischen Völker zählen. Hier Ist zusammen mit Industrialisierung und allgemeiner Schulbildung schon das rationalistische Denken herrschend geworden und dadurch die rein naturhafte Basis verlorengegangen. Andererseits hat die von unten und oben her eingetretene Nivellierung in Zusammenwirkung mit den Kriegsfolgen dazu geführt, daß heute die überwiegende Mehrzahl der Familien ein Dasein führen, das man höchstens als kleinbürgerlich (seinem Niveau, nicht seiner Sicherung nach) bezeichnen kann. Für sie alle würde beim gegenwärtigen Stand der Familienpolitik eine an die früheren Verhältnisse auch nur einigermaßen heranreichende Kinderzahl die bewußte Rückkehr ins Elend des frühen Proletariats bedeuten. Gerade das aber ist es, was der einmal zum kleinbürgerlichen Dasein Aufgestiegene mehr als den Tod fürchtet! Um dieser Lebenshaltung willen ist der Kommissar der Oststaaten. bereit, seine Genossen, wenn nötig, ans Messer zu liefern, aus dieser Lage heraus ist aber auch der Mitteleuropäer „zu allem entschlossen“. So kommt es, daß trotz der bekannt lockeren Ehemoral die Geburtenzahlen in den USA wesentlich höher liegen, da eben doch im Normalfall der natürliche Familiensinn stark genug ist, um ein drittes oder viertes Kind dem neueren Auto oder der größeren Urlaubsreise vorzuziehen. Die Grundlagen der Lebensexistenz aber werden auf dem bei uns erreichten Entwicklungsstand niemals generell aufgegeben werdenl Selbst eine umfassende Rückkehr zu religiössittlicher Lebensführung würde hier (zunächst wenigstens) nur zum Übergang Zu erlaubten, an Steile verwerflicher Verhütungsmethoden führen, wirkliche Besserung und Neuaufbau des Volkskörpers aber erfordert darüber hinaus auch eine zielbewußte Familienpolitik.

Eine solche mochte, trotz aller Not, früher entbehrlich sein, und sie wird es- vielleicht auch wieder einmal werden, Wenn die geistigen und materiellen Grundlagen des Familienlebens sich wesentlich bessern sollten. In der gefährlichen Übergangszeit des „kritischen Lebensstandards“ aber stellt sie eine unabdingbare Notwendigkeit dar.

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