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Gruppenpsychologie und Gruppenforschung

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Im Gegensatz zur Massenpsychologie beschäftigt sich die Gruppendynamik hauptsächlich mit ziemlich kleinen Gruppen von höchstens einigen Dutzend Personen, zum Beispiel Familien, Nachbarschaften, Schulklassen, Betrieben, Cliquen, Spielgruppen, aber auch psychiatrischen Therapiekreisen. Die relativ kleinen Gruppen werden primäre oder auch „Face-to- face”-Gruppen genannt, weil Sieb ihre Mitglieder von Angesicht zu Angesicht kennen. Sie bieten sich dann aber auch als Modell für die Untersuchung größerer oder sekundärer Gruppen, wie etwa die Belegschaft eines Großbetriebes, an. Es ist allerdings noch nicht entschieden, inwieweit sich die zum Teil experimentellen Ergebnisse der Erforschung kleiner Primärgruppen tatsächlich auf Großgruppen — wie sie die Massenpsychologie untersuchte — übertragen lassen.

Die unterschiedlichen Ergebnisse beider Forschungsrichtungen lassen sich schon aus ihren Begriffen ableiten, wenn man sich einerseits an die Ethymologie des Wortes Masse erinnert und anderseits bedenkt, daß sich das Wort Gruppe von dem althochdeutschen Wort „kröpf” ableitet, das nicht nur die vergrößerte Schilddrüse, sondern auch den Knoten meint. „Wo sich die Lebens- und Erlebnislinien mehrerer Wesen miteinander mehr oder minder fest und dauerhaft verknoten, haben wir eine Gruppe vor uns” (Hofstätter).

Als wesentliche Ergebnisse der Gruppenforschung kann man zusammenfassen:

1. Abnahme der sozialen Distanz und Zunahme des sozialen Kontaktes. Die Mitglieder einer Gruppe beginnen sich mit dem Pronom „wir” zu bezeichnen.

2. Die Zunahme des inneren Kontaktes führt zu einer Einschränkung, der Außenbeziehungen. Diesem Zweck dienen verschiedene Isolierungsgebräuche, wie die Flitterwochen jungvermählter Paare oder die Einschließung der Novizen religiöser Orden.

3. In der Gruppe findet eine spontane Rollendifferenzierung statt, wobei der erste Schritt in dieser Richtung meist in der Ermittlung einer geeigneten Führerpersönlichkeit liegt. Aus der Bewertung weiterer Spezialistenrollen ergeben sich dann die sozialen Rangunterschiede und eine Rangordnung, wie sie Schjelderupp durch die Entdeckung der Hackordnung auf dem Hühnerhof bereits für das Tierreich feststellen konnte.

4. Aus der Kompetenz- und Arbeitsverteilung ergibt sich eine gesteigerte Leistungsfähigkeit der Gruppe gegenüber dem einzelnen. Auf diese Zusammenhänge macht ja schon das Sprichwort „Vier Augen sehen mehr als zwei” aufmerksam.

Diese Betrachtungsweisen, die sich in zeitlicher Abfolge entwickelt haben,

kann man aber auch nebeneinanderstellen, und es zeigt sich dann ein höchst aktueller Gesichtspunkt. Zur Führung in irgendeiner Art berufenen Männern wird es nämlich von einer gewissen Größe des Kollektivs an möglich sein, dieses in Richtung Gruppe oder Richtung Masse zu beeinflussen, je nachdem, ob an die Vernunft oder an Gefühle und Instinkte appelliert wird.

Ein typisches Beispiel dafür ist ein Kollektiv von Gewerkschaftsmitgliedern, das in Streik getreten ist. Unterlassen es die verantwortlichen Führer, an die Vernunft zu appellieren oder fachen sie gar die Gefühle und Affekte an, so ist es leicht möglich, daß aus der organisierten Gruppe eine chaotische Masse wird, die wesentlich mehr Schaden anrichtet, als Vorteile erreicht werden sollten.

Gefühle sind bestimmend

Jeder Demagoge weiß, daß man an die Gefühle appellieren muß, um Anhang zu finden. Aber er sollte auch wissen, daß damit nur selten konstruktive Aufbauarbeit geleistet werden kann und daß es ihm nur allzu leicht wie Goethes Zauberlehrling gehen kann: „Die Geister, die ich rief, die werd’ ich nun nicht los.”

Demgegenüber ist es natürlich viel schwieriger, eine Gruppe aufzubauen und zusammenzuhalten, denn deren Mitglieder lassen sich vorwiegend von logischen Überlegungen leiten, sind kritikfähig und verlangen und bedürfen der Kompetenzverteilung, um im Gruppenverband zu bleiben. Wird ihnen die Möglichkeit, ihre Fähigkeiten zu entfalten, nicht geboten, so werden sie ohne zwingende Gründe kaum ein Verlangen verspüren, in der Gruppe zu verbleiben. Auch dies sollte jede Führerpersönlichkeit bedenken, wenn sie sich nicht den Ast absägen will, auf dem sie sitzt; was schon manchem kurzsichtigen Politiker und Vorgesetzten passiert ist.

Jeder Staatsbürger sollte wissen, daß es notwendig ist, gut funktionierende Kleingruppen — deren wichtigste die Familie ist — zu haben, um eine konstruktive Großgruppe, wie sie jeder demokratische Staat sein oder zumindest werden sollte, .zu bilden und zq eljaltejk. Durch seine .Mitarbeit und Mit-? spräche i-.die er,¡wenn der, Staat wJrw lieh eine organisierte und konstruktive Großgruppe ist, haben sollte — sollte er dazu beitragen, daß jenen Männern die politische Macht in die Hände gegeben wird, die intellektuell und charakterlich fähig sind, in einem Kollektiv durch Appell an die Vernunft konstruktiv im Sinne der Gruppendynamik zu wirken. Dies setzt aber auch voraus, daß sie Kritik vertragen und Kompetenzen teilen können, was besonders an den Charakter vielleicht die größten Anforderungen stellt. Charakterliche Qualitäten, die jenen meist fehlen, die nur durch Demagogie Leidenschaften wecken können und damit die Vernunft untergraben, wodurch sie aus dem Volk das machen, was die Massenpsychologie „Masse”, die politische Alltagssprache aber „Stimmvieh” nennt.

Es muß wohl nicht erst ausdrücklich betont werden, welche Konsequenzen sich aus diesen Überlegungen auch für eine verantwortungsvolle Presse ergeben.

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