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Liebe statt Furcht

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Nach Nikolaus Lobkowicz (FURCHE 42/82) nimmt nun der österreidfusche Erzähler Peter Marginter zu der Frage Stellung, ob unsere Gesellschaft noch eine gemeinsame Basis von allgemein anerkannten Werten hat oder ob der Pluralismus zu einem Zerfallsprozeß führt.

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Nach Nikolaus Lobkowicz (FURCHE 42/82) nimmt nun der österreidfusche Erzähler Peter Marginter zu der Frage Stellung, ob unsere Gesellschaft noch eine gemeinsame Basis von allgemein anerkannten Werten hat oder ob der Pluralismus zu einem Zerfallsprozeß führt.

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Liebe an Stelle von Furcht: Das ist für mich der Kern der Botschaft Christi. Die Wirklichkeit, wie wir sie täglich erleben, scheint allerdings einer derart hochgespannten Hoffnung mehr denn ie zu widersprechen.

Wie dem immer sei: Um von der Furcht zur Liebe zu gelangen, bedarf es zunächst konkreter Werte, die wir anerkennen. Aber ist nicht die pluralistische Gesellschaft, in der wir zu Hause sind, gerade als Folge des Zerfalls von Wertsystemen entstanden, die bis vor etwa zwei Generationen eine ziemlich uneingeschränkte, wenn auch unterschiedlich begründete Anerkennung gehabt haben?

Und sind nicht die einzelnen Werte dadurch so relativiert worden, daß nun in geradezu perverser Umkehrung ihren verunsicherten Anhängern kaum mehr zugestanden wird, sie mit einigem Nachdruck zu verteidigen, es sei denn über das Diktat der Majorität?

Eine solche Phase ist beim Ubergang von der Furcht zur Liebe wahrscheinlich unvermeidlich. Furcht kommt aus Zwäng, Liebe aus Freiheit — und mit der Freiheit müssen wir erst einmal leben lernen, auf eigene Gefahr und Verantwortung. Gleichwohl ergibt sich da die Frage, wo sich der Minimalkonsens findet, der während dieser einigermaßen chaotischen Periode die menschliche Gesellschaft irgendwie zusammenhält und verhindert, daß die Auseinandersetzung der Gruppen und Individuen die notwendige Infrastruktur des Miteinander sprengt, sodaß am Ende tatsächlich der Mensch dem Menschen nur mehr zum Wolf ist.

Bei uns im Westen ist ein Apparat zur Konsensherstellung durch unsere demokratischen Verfassungen gegeben, aber wir dürfen nicht vergessen, daß auch diese Verfassungen aus einer Vergangenheit stammen, in der die Konsensbasis noch ungleich breiter war, als unsere Groß- und Urgroßväter erst am Anfang des Pluralismus standen.

Ich bezweifle, daß ein bloßes Nützlichkeitsdenken von Staatsverdrossenen die Verfassungstreue der Auseinanderstrebenden auf Dauer garantieren kann. Trotzdem zeigt sich, daß das Geflecht von Normen, deren wichtigste aus einem anderen Geist als dem unseren geschaffen wurden, auch noch den Zusammenhalt einer Gesellschaft leistet, die nun nicht mehr allein von Interessengegensätzen, sondern durch Divergenzen der Werte vielfach zerspalten ist.

Nur das Extremste, das absolut nicht hineinpassen will, wird an die Peripherie geschoben. Und dabei ist zumindest unser Österreich kein Polizeistaat, in dem das Schlimmere mit dem Schlimmsten hintangehalten wird. Trotz allem Pluralismus muß es offenbar ein paar Werte oder doch einen einzigen Wert geben, dem wir das, weil er allgemein anerkannt ist, zu verdanken haben.

Nun: Nach dem heutigen Stand können wir, fürchte ich, nicht einmal Leben und Gesundheit - geschweige denn Eigentum — oder überhaupt Integrität des Mitmenschen — auch nicht Frieden — als absolute Werte bezeichnen, an die man nur unter exzeptionellen Voraussetzungen und sogar dann nur mit schlechtem Gewissen rührt, wenn es auch überall Gruppen gibt, die sich zu diesen Werten in allerhand Modifikationen bekennen.

Eben die Modifikationen sind das Trennende. Das Letzte, was uns alle noch in einer Art Furcht miteinander verbindet, dürfte eine gewisse Achtung vor den Regeln der jeweiligen Spiele sein, auf die wir uns in den Beziehungen zwischen Mensch und Mensch, Gruppe und Gruppe einlassen. Was selbstverständlich nicht heißt, daß diese Spielregeln immer eingehalten werden, daß nicht jeder sie für sich zurechtzubiegen oder doch rücksichtslos herauszuholen versucht, was für ihn drin ist.

Schließlich geht es bei diesen Spielen um Einsähe, nicht nur um die Ehre^ Dennoch bewirkt der Verstoß gegen die Spielregeln beim Täter ein schlechtes Gewissen und wird von der Umgebung mißbilligt, wenn sie auch manchmal ein „menschliches Verständnis" dafür aufbringt oder sogar Schadenfreude zeigt.

Wie ernst das Spiel ist, hängt vor allem mit der Höhe des Einsatzes zusammen, ein Rückschluß daraus auf die Intensität des schlechten Gewissens bei einem Regelverstoß ist aber nicht möglich. Einerseits kann man sich auch an ein schlechtes Gewissen so gewöhnen, daß es kaum mehr drückt. Andererseits setzt ein scheinbar eindeutiger, bedeutender Gewinn einen Entschuldigungsmechanismus in Gang, dessen Argumentation darauf hinausläuft, daß der unterlegene Gegner von vornherein nicht qualifiziert war, an diesem Spiel teilzunehmen — ein Untermensch, ein Ketzer, ein Faschist, ein Kommunist, usw____

Es liegt auf der Hand, daß sich da mit einigem Geschick die tollsten Rechtfertigungen konstruieren lassen, aber der Stand der Dinge ist doch erstaunlich stabil. Er wäre in seiner Stabilität noch viel erstaunlicher, wenn wir davon ausgehen müßten, daß wirklich in allen diesen Spielen nur die Spielregeln den Ablauf bestimmen. Ein Regelverstoß bewirkt zwar auch dann schlechtes Gewissen, wenn einen mit dem Gegner oder Partner nichts anderes verbindet als eben die Teilnahme an dem Spiel, ein Antrieb zu positivem Handeln darüber hinaus folgt aber aus dieser Tatsache nicht.

Hier setzt nun jener Vorgang ein, den ich mit dem Ubergang von der Furcht zur Liebe gemeint habe. Auf der einen Seite ist oft noch diese Spur Furcht da, von der anderen Seite her greift die • Liebe ein — kann sie wenigstens eingreifen. Für die Liebe gibt es keine Regeln. Sie kann erkalten, sie kann sogar in Haß umschlagen, aber solange sie als Liebe andauert, belastet jedes, auch ein unbewußtes Handeln wieder das Gewissen.

Ich mache mir nicht vor, daß die Liebe, die ich als Ursache und Ziel der herrschenden Verwirrung sehe, immer ein besonders edles Gefühl wäre. In vielen, ja in den meisten Fällen ist sie durch Habsucht verunreinigt, die eine Gemeinschaft mit Dritten und ein Einfügen in eine als Kosmos verstandene Welt ausschließt, aber heute sind die Symptome, die darüber hinaus weisen, schon nicht mehr zu übersehen.

Bei den Friedensmarschierern und Grünen aller Schattierungen ist sicher nicht nur nackte Angst um die eigene Existenz, sondern auch Sorge um unsere Welt in ihrer wunderbaren Vielfalt am Werk, die aus einer Liebe zu den Geschöpfen und Dingen kommt, deren bloßes Vorhandensein/ Vorhandenbleiben ihr genügt.

Werte? Die Liebe zählt und wägt nicht. Dem Verfall der absoluten, objektiven Werte entspricht eine Intensivierung der relativen, subjektiven Werte. Dabei geht leider allerhand kaputt. Auch die Brüchigkeit so vieler Institutionen ist eine Folge ihrer Privatisierung, der Schwerpunktverlagerung auf den an sie gestellten emotionellen Anspruch.

Es stimmt schon, daß Liebe erst einmal blind macht, aber ich glaube daran, daß diese Blindheit nichts anderes ist als das dumpfe Bemühen, ein neues Auge zu öffnen. Ein geistiges Erkenntnisorgan formt sich da aus, das wir brauchen, um unser Ich soweit zu entwickeln, daß sich die Wirklichkeit Gottes darin wie in einem Spiegel ungetrübt und unverzerrt abbildet.

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