7126258-1997_06_02.jpg
Digital In Arbeit

Kein Ersatz notwendig

Werbung
Werbung
Werbung

In der Tradition der Schule war das Ergebnis des Konkordats deutlich erkennbar gewesen: Selbst politische Wechselfälle hatten den Religionsunterricht nicht beendet. Mit der Realisierung eines „Polytheismus der Werte", wie ihn Max Weber vorausgesehen hatte, war vor allem in den letzten zwei Jahrzehnten ein Wandel eingetreten, der allein daran zu erkennen war, daß nicht einmal mehr dieser Polytheismus sittliche oder Handlungsnormen verbindlich vermittelte.

Die Entbindungsphähomene von der Gesellschaft hatten nicht nur die Kirchen betroffen, sondern auch in gleicher Weise laizistisch-liberale Positionen. Diese Veränderung ist dort wahrzunehmen, wo zwar weiterhin traditionelle „Werte" genannt werden, jedoch keinerlei Einfluß auf Handlungsnormen besitzen. So sind aus Wertvorstellungen Wünsche geworden, deren Verwirklichung nicht verbindlich erscheinen, wie am Beispiel „Familie" zu erkennen ist. Parallel zu den Wunschvorstellungen charakterisieren weder soziale noch weltanschauliche Dispositionen die Lebensperspektiven in der Gesellschaft, sodaß der Religionsunterricht in eine Unterbestimmung geriet, aus der er sich kaum mehr zu befreien vermag. Zum Beispiel vermag der Deutschunterricht weit eindringlicher und konkreter sittliche Normen zu vermitteln, wenn das eindrucksvolle Motiv bei Bert Brecht zur Sprache kommt: Zuerst kommt das Fressen und datin die Moral Diese Alliteration aus der Feuerbach-These „Der Mensch ißt, was er ist" — zeigt die erfolgreiche Konkurrenz der Wirklichkeit gegenüber der Wahrheit, besitzt alle Vorteile von historischer Gültigkeit, also sind Sittennormen ungegenständlich und bestenfalls Projektionen.

Nun ist nicht allein die Sprengung traditioneller Wertvorstellungen zu beobachten, sondern gleichzeitig ist in den Religionen der Prozeß der Lai-sierung vorangeschritten. Die Kenntnis der Schulabgänger über Religion

ist mehr als blamabel, ja nicht einmal kulturwissenschaftliche Fakten sind noch geläufig, die immerhin während einer Ausbildung zu vermitteln ge wesen wären. So ist die Abwertung der Religion in der Gesellschaft mit dem Niedergang der Qualität des Religionsunterrichts komplementär. Es ist die realistische Einschätzung vieler Religionspädagogen, den Unterricht schon deshalb abzuschaffen.

In dieser Notsituation besteht die Übereinstimmung, an die Stelle des Religionsunterrichts einen Ethikunterricht einzuführen. Gäbe es nicht jenes Schulsystem, das in Osterreich sich speziell dadurch auszeichnet, zwischen Realitätsverlust und -Verweigerung zu oszillieren, könnte man sehr wohl argumentieren, daß die Normen einer staatlichen Zivilreligion zu vermitteln wären. Der Lehrer wäre wiederum jener, der über die wenigsten Unterrichtsstunden verfügt. Im Vergleich zum Religionslehrer wird den neuen Ethiklehrer keine bessere Professionalität auszeichnen. Er wird die Position des Außenseiters im Lehrkörper übernehmen, wie sie zuvor der Religionslehrer besaß.

In der Kombination von gesellschaftlicher Realität und Schulalltag stellt sich die Frage, ob die Schulen überhaupt noch die Geistesgegenwart besitzen, basales Wissen vermitteln zu

können, das sich jenseits von Benotung, Schularbeits-Streß, Prüfung und naturwissenschaftlicher Strin-genz bewegt. Wenn sich der sogenannte Turnunterricht noch behaupten konnte, der sich großteils ohnehin in nur paramilitärischen Ausbildungen bewegt Gleich- und Wechselschritt, Antreten, Zweierreihe und auf Vordermann ausgerichtet , so behauptet er seine funktionale Bedeutung im Hinweis auf die Gesundheit.

Weder der Beligions-, noch der Ethikunterricht vermögen auf diesen Nutzen zu rekurrieren, sondern basieren auf der vermeintlichen Verpflichtung einer älteren Generation, der jüngeren die Legitimität von sittlichen Normen beizubringen. Wie bereits erwähnt, sind die Phänomene sozialer Entkoppelung, die bewußte Verwechslung von Liberalität mit grundsätzlicher Kündigung gesellschaftlicher Beziprozitäten, so stark gediehen, weshalb die Einmahnung ethischer Positionen nahezu als Nekrolog anmutet. VjS war ja die ältere Generation, die in blankem Eigennutz die sozialen Verbindlichkeiten in einer Gesellschaft korrumpierte, den Sozialstaat plünderte und das sozialpolitische System zur Hängematte denaturierte. In dieser Diskrepanz zur politischen Realität sollen nun Schüler in Illusionen ausgebildet werden, die jeder durchschnittliche Fernsehreporter zum Platzen bringt. Schon längst haben wir den politischen Konsens im Staat verbraucht und das alte Dilemma zwischen Egoismus und Altruismus eindeutig entschieden. Soll also in der Schule eine heile Welt beschworen werden, an die wir längst nicht mehr glauben? Wie können wir jungen Menschen jene erforderliche Liberalität beibringen, da wir deren Ressourcen nicht ersetzten?

Unabhängig von der Tatsache, daß die Entscheidung, welche Ethik da in der Schule vorgetragen werden soll, kaum zu treffen ist, würde dieser hochfliegende Plan, josefinischen Sittenunterricht zu spenden, ebenso zur vielfach genutzten Freistunde verkommen wie vorher die Religionsstunde. Sollte man schließlich den Philosophie-Lehrer hiefür zwangsweise verpflichten, so stellt sich gleich die nächste Frage, ob nach einem Jahr Psychologie-Unterricht, der in Wahrheit „Physiologie" heißen sollte, die Einführung in Ethik in einen ähnlichen grauenhaften Amateurismus verkommt wie das Fach Philosophie.

So mag die Konsequenz aus diesen

Überlegungen überraschend wie empörend sein: Die Abdankung des Religionsunterrichts von der Schule ist durch nichts zu ersetzen. Eine Gesellschaft, die sittliche Normen nur gemäß des Strafrechts anerkennt und nicht einmal das ist verbindlich -, benötigt keine Aufklärung darüber. Der Schule diese Aufgabe zuzumuten ist - wie so oft - eine bewußte Auslagerung eines Problems, die Institutionalisierung einer weiteren gesellschaftlichen Lüge, die die Lehrer zu fiktiven Angaben über Inhalte zwingt, die sie ohnehin nicht erfüllen können. Ehrlicher ist es, die Demoralisierung von Staat und Gesellschaft als Faktum anzuerkennen.

... und vielleicht gibt es dann wieder jene Entdeckungsfreude bei jungen Menschen, wenn sie unter der Bank und unter Strafandrohung Spinozas Ethik, den kategorischen Imperativ von Kant, die moralische Konstruktion von Gewißheit nach Wittgenstein oder gar das Neue Testament lesen.

Der Autor ist

Soziologe in Wien.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung