Ein säkulares Fach

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Angesichts der Abmeldungen vom Religionsunterricht wird der Ruf nach alternativem Ethikunterricht lauter. Doch Pragmatik ist kein entscheidendes Argument.

Man kann nicht aus jeder Not eine Tugend machen. Die Tatsache, dass die Abmeldungen vom konfessionellen Religionsunterricht ein Ausmaß erreicht hat, das die Einführung eines alternativen Ethikunterrichts als Ersatz für den nicht besuchten Religionsunterricht nahelegt, mag zwar unter pragmatischen Gesichtspunkten relevant sein, die Perspektiven eines sinnvollen Ethikunterrichts werden durch diesen Gesichtspunkt allerdings eher verzerrt und beschnitten. Grundsätzlich muss gelten: Ethikunterricht kann kein Ersatz für den Religionsunterricht sein, weil Ethik kein Ersatz für Religion ist. Ethik ist nicht das, was von den Religionen übrigbleibt, wenn man Gott durchstreicht, wie umgekehrt auch Religion ihrem Wesen nach keine Ethik für Menschen ist, die den Prozess der Aufklärung noch vor sich haben.

Kein Religionsersatz für Atheisten

Weder erspart es die Religion einer modernen Gesellschaft, sich mit den Fragen einer säkularen Moral auseinanderzusetzen, noch ist diese Moral eine Art Religionsersatz für Agnostiker und Atheisten. Die Notwendigkeit des Ethikunterrichts muss deshalb anders begründet werden als mit dem Hinweis, dass junge Menschen, die keinen Religionsunterricht besuchen, wenigstens irgendeine Werterziehung bekommen sollten. Gelingen kann Ethikunterricht nur, wenn man anerkennt, dass die Ethik seit der Antike Ausdruck des Willens der Menschen ist, die Fragen des Zusammenlebens weder einem Gott noch einer Kirche zu überlassen, sondern ihrer eigenen Souveränität und Vernünftigkeit zu überantworten.

Die Dringlichkeit des Ethikunterrichts stellt sich deshalb aus zwei Gründen: Einmal gibt es in einer prinzipiell säkular ausgerichteten, sich als pluralistisch verstehenden Gesellschaft kein tradiertes und wie selbstverständlich vermitteltes Wertesystem, das fraglos vorausgesetzt und weitergegeben werden könnte.

Durch Diskussion und Argumente

Eine säkulare Gesellschaft muss sich deshalb auch über ihre grundlegenden Werte und ihre normativen Vorgaben stets aufs Neue verständigen. Niemand hat dies klarer formuliert als der portugiesisch-niederländisch-jüdische Philosoph Baruch Spinoza. In einem freien Staat legen die Bürger durch Diskussion und Argumente, manchmal sogar durch Mehrheitsentscheidungen auch die ethischen Grundsätze ihres Zusammenlebens fest. Dass Spinoza aus der jüdischen Gemeinde Amsterdams ausgeschlossen wurde, dass seine Werke auf dem vatikanischen Index der verbotenen Bücher landeten und auch in den protestantischen Niederlanden nicht gedruckt werden durften, sagt einiges über die ursprüngliche Bereitschaft der Religionen, sich mit diesem Konzept auseinanderzusetzen. Gerade weil keine Religion mehr eine allgemeinverbindliche Autorität beanspruchen kann, sind mündige Menschen gefordert, die um die Möglichkeiten und Grenzen eines ethischen Diskurses Bescheid wissen. Ethikunterricht ist so eine demokratie-, ja staatspolitische Notwendigkeit.

Das führt zum zweiten Argument. Eine moderne, in hohem Maße von Migration und kultureller Vielfalt geprägte Gesellschaft benötigt Grundlagen, Formen und Verfahren des Zusammenlebens, die für alle Mitglieder der Gesellschaft egal welcher Herkunft gelten können - egal ob sie Gläubige oder Nichtgläubige sind, egal ob sie sich zu einer oder gar keiner Religionsgemeinschaft bekennen. Die Formulierung und die Diskussion solcher Grundlagen kann nur eine säkulare Ethik liefern, die unterschiedlichen religiösen und nichtreligiösen Moralvorstellungen einen gemeinsamen Rahmen geben muss. Dieser Rahmen kann durchaus auch in Konflikt mit bestimmten religiös fundierten Werthalten und moralischen Praktiken geraten; man darf auch daran erinnern, dass die normativen Grundlagen unserer modernen Gesellschaft, die Menschenrechte, oft gegen den Widerstand der Religionen formuliert und durchgesetzt werden mussten. Die europäische Aufklärung begann als Kritik der Religion. Das schmälert nicht die Leistungen der Religionen, zeigt aber, dass es zwischen den Ansprüchen einer säkularen Moral und religiös motivierten Lebensformen Spannungen gibt, die selbst Gegenstand ethisch-philosophischer Reflexion sein müssen. Ethikunterricht ist deshalb eine gesellschafts- und kulturpolitische Notwendigkeit.

Moral als Sache der Vernunft

Eine säkulare, vernunftgeleitete Ethik ist allerdings keine Erfindung unserer Zeit, sondern gehört zum europäischen Erbe. Man könnte es geradezu als Spezifikum europäischer Kultur erachten, die Frage der Moral als Sache der Vernunft zu sehen. Von den Glücks- und Tugendethiken der Antike über die moralischen Reflexionen eines Montaigne, von der Ethik Spinozas bis zum Kategorischen Imperativ eines Immanuel Kant, vom angelsächsischen Utilitarismus bis zur modernen Diskurs- und Verantwortungsethik spannt sich ein Bogen, der die Möglichkeiten einer vernünftigen Ethik auslotet sowie die Grundlage der aktuellen ethischen Debatten im Bereich der Medizin, der Biopolitik, der Wirtschaft, der Technik und der Gesellschaft darstellt. Erste Aufgabe eines Ethikunterrichts müsste es sein, in genau dieses Denken, seine Argumentationsfiguren, seine Voraussetzungen und seine Konsequenzen kritisch und altersgerecht einzuführen.

Die Frage des Ethikunterrichts muss daher von der Frage des Religionsunterrichts prinzipiell entkoppelt werden. Man könnte sogar sagen, dass gerade für Angehörige von Religionen mit rigiden Moralansprüchen, die einer aufgeklärten Vernünftigkeit nicht immer entsprechen, ein religionsneutraler Ethikunterricht von besonderer Wichtigkeit sein müsste, um den Stellenwert eines religiösen Wertesystems im Kontext einer pluralen Gesellschaft richtig einschätzen zu können. Das heißt: Ethik müsste ein für alle Schüler verbindliches Pflichtfach zumindest der Sekundarstufe II sein.

Ethikunterricht ist deshalb nichts, was von Religionslehrern oder Lehrern anderer Fächer nebenbei erledigt werden kann. Wenn überhaupt, dann bringen Philosophielehrer einige, bei Weitem nicht alle der dafür notwendigen Kenntnisse und Kompetenzen mit.

Ethik ist deshalb auch keine Querschnittmaterie, sondern eine umfassende Disziplin mit einer 2500-jährigen Geschichte und einer mittlerweile ausdifferenzierten Argumentationskultur, in der Erkenntnisse der Sozial- und Naturwissenschaften ebenso Berücksichtigung finden wie Fragestellungen, die durch den technischen Fortschritt und globale Entwicklungen aufbrechen. Meinte man es ernst mit dem Ethikunterricht, dann müsste Ethik nicht nur als Unterrichtsfach, sondern auch als eigenes Studienfach etabliert werden, das wie jedes Lehramtsstudium in Kombination mit einem anderen Fach absolviert und unterrichtet werden kann. Inhalte dieses Faches sollten neben den Grundlagen der philosophischen Ethiken auch Grundkenntnisse unterschiedlicher, auch religiös fundierter Normensysteme sein, die es erlauben, diese ohne ideologische oder konfessionelle Präferenz im Unterricht zur Sprache zu bringen.

Ethik ist nicht erbaulich

Nur unter diesen Voraussetzungen würde man der Sache der Ethik und der Situation in der Gesellschaft gerecht werden. Es kann zwar nicht Aufgabe des Ethikunterrichts sein, bessere Menschen zu schaffen oder bestimmte, oft auch vom Zeitgeist abhängige Wertvorstellungen zu indoktrinieren; es kann auch nicht Aufgabe des Ethikunterrichts sein, eine Wohlfühlatmosphäre mit Selbstverwirklichungsangeboten und Toleranzrhetorik zu erzeugen.

Und was Georg Wilhelm Friedrich Hegel von der Philosophie sagte, gilt für die Ethik im besonderen Maße: Sie muss sich davor hüten, erbaulich zu sein. Es muss deshalb Aufgabe des Ethikunterrichts sein, kritisch in jene Denktraditionen und Lebensformen einzuführen, die die Basis der Gesellschaft darstellen, der Ethikunterricht sollte junge Menschen befähigen, die zunehmend verwirrender werdenden Debatten über Glücksvorstellungen und Gerechtigkeitskonzeptionen, über Freiheitspotenziale und Verantwortungserwartungen, über Grenzfragen des Lebens und des Todes, über den Umgang mit Unterschieden und Differenzen, über Werte und Wertveränderungen zu verfolgen, zu verstehen und in einer letztlich dem Kriterium der Vernünftigkeit gehorchenden Weise auch selbst zu gestalten.

Der Autor ist Professor für Philosophie an der Universität Wien

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