Gefangen im Kaufrausch

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Zu Weihnachten feiert sich auch die Konsumgesellschaft bis zur Unerträglichkeit. Braucht der Kapitalismus das hemmungslose Kaufen? Ökonomen wüssten interessante Alternativen.

Die Tage der käuflichen Plagen des Weihnachtsfestes, des Schenkens und Beschenktwerdens sind angebrochen, und so steigt die Zahl derer, die sich des Festes der Stille durch Flucht entziehen zu wollen, womöglich in den Urlaub. "Koffer packen statt Kekse backen" lacht es von den Werbeplakaten. Wir können daraus nur erahnen, wie tief der Stachel sitzt, wenn nun schon die Konsumallergie selbst zum Geschäft wird. Auf den nachfolgenden Zeilen soll eine Gegenbewegung anderer Art versucht werden. Der Ausgangspunkt: Gibt es eine Welt, die ohne Kaufzwang auskäme?

Thomas Morus hat einen solchen Entwurf im frühen 16. Jahrhundert gezeichnet: Auf der Insel Utopia leben Menschen ohne Hochmut. Geld und Luxus sind ihnen ein Gräuel, Übervorteilung des anderen verboten. Das Einfachste ist gerade gut genug, Selbstbeschränkung ist oberste Pflicht. Dafür sorgt ein jeder für den anderen. Konsum auf Utopia verläuft nach Morus so: "Auf den Markt bringt jede Familie die Erzeugnisse ihrer Arbeit. Dort lässt sich der Haushaltsvorstand geben, was er für die Seinen braucht, und ohne Zahlung, ohne die geringste Entschädigung bekommt er alles mit, was er verlangt."

Jean-Baptiste Say, ein maßgeblicher Architekt der freien Marktwirtschaft würde darüber wohl verärgert lachen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stiftete er einen Kernsatz des liberalen Kapitalismus: In einem funktionierenden Markt gibt kein allgemeines Überangebot und auch keinen allgemeinen Absatzverlust. Jedes Warenangebot findet auch seinen Absatz, woraus folgt, dass jede Arbeit ihren Lohn findet und es also eine unfreiwillige Arbeitslosigkeit nicht gibt. Neoliberale Ökonomen des 20. Jahrhunderts destillierten daraus die goldene Regel der Konsumgesellschaft: Die Gesellschaft produziert, so viel sie kann, und konsumiert, so viel sie kann, und erlebt Fortschritt und Reichtum in Hülle und Fülle.

Weihnachten nach dem Say'schen Gesetz

Auf das reale Leben übertragen sind Kaufstoßzeiten wie Weihnachten das Hochamt dieses "Say'schen Gesetzes", in der wir Konsumgesellschafter Milliarden ausgeben oder einnehmen, kreditieren und schulden - nur für eine schöne Bescherung, Weihnachten - das ist Says Welt.

Eine Welt allerdings, die der Wirklichkeit hoffnungslos hinterherhinkt. Sie kennt weder Ressourcenknappheit noch echte Arbeitslosigkeit. Vor allem aber gibt es darin keinen Überschuss oder Güter, die einfach nicht gebraucht werden. Das ist auch verständlich: Say schrieb in einer Zeit, in der der Mangel die Menschen tief in ihrer Existenz gefährdete. Es galt eine wachsende Bevölkerung mit dem Lebensnotwendigsten zu versorgen. Diese Zeit aber ging spätestens in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts zu Ende. Die Mangelgesellschaft war Geschichte - die Konsumgesellschaft hatte begonnen - und damit eine Zeit des Überflusses, wenn auch nur auf der Nordhalbkugel der Erde. Dort gibt nun also Waren für alle und wachsende Produktivität.

Die unmögliche Selbstbeschränkung

Wenn nun aber die Menschen genug von allen lebensnotwendigen Gütern haben, wäre es dann nicht auch denkbar, das Wachstum zu beschränken und den erreichten Reichtum zu konservieren? In Says Theorie kommt diese Möglichkeit nicht vor. Ökonomische Antworten auf diese Frage gibt es zwar, doch finden sie keine Umsetzung: Jede Diskussion über die Mindestsicherung oder alternative Arbeitszeitmodelle artet zu einer Neiddebatte über soziale Hängematten auf Kosten der Schwerarbeiter aus. Wenn tatsächlich die Arbeitszeit verkürzt wird, dann nicht aus natürlichen Gründen, sondern als Kurzarbeit der Krise.

John Maynard Keynes und Karl Marx haben von einer anderen Ökonomie geträumt, als sie - jeder für sich - eine Art Schlaraffenland entwarfen. In seinem Essay "Die wirtschaftlichen Möglichkeiten unserer Enkelkinder" (1930) lässt Keynes die Akkumulation von Reichtum in eine Sättigung aller Grundbedürfnisse münden - und gelangt somit zur Mäßigung: Die Arbeitszeit würde drastisch verkürzt, auf exakt 25 Stunden, den Rest der Zeit würden die Menschen mit Spaß und Spiel verbringen: "This means in the long run, that mankind is solving its economic problem."

Nur graduell anders sieht das Marx, der sich den Übergang zum kommunistischen Paradies als Erwerbsgesellschaft vorstellt, welche nach marktwirtschaftlichen Prinzipien (der Arbeiter wäre Teilhaber an den Betrieben) so weit fortschreitet, dass am Ende des Weges der befreite Mensch die Wahl zwischen den Freizeitgestaltungen Jagen, Fischen oder Kunst und geistiger Erbauung habe.

Weder Marx noch Keynes haben den psychologischen Sog gekannt, der in Überflussgesellschaften wirken kann. Der Schweizer Ökonom Matthias Binswanger hat die Werbeindustrie mit ihren Glücksversprechen als treibendes Element dieses Soges ausgemacht. Immaterielle Glücksversprechen, so das vermittelte Bild der Werbung, könnten durch materielle Güter eingelöst werden. Das alles mündet in eine galoppierende Abfolge wechselnder Illusionen oder anders gesehen in eine ständige Flucht vor der Enttäuschung. Diese Flucht hat aber auf der anderen Seite eine fortschreitende Zerstörung natürlicher Ressourcen zur Folge.

Pigous Umweltsteuern

Arthur Cecil Pigou, ein britischer Ökonom, warnte 1937 vor den Kollateralschäden wirtschaftlicher Tätigkeit, die er als "negative Externalitäten" bezeichnet. Ein Beispiel: Wenn bei der Produktion eines Stoffes Umweltschäden entstehen, schadet das anderen Menschen, für die Verursacher ist die Verschmutzung aber unentgeltlich. Wer heute die Meldungen über das langsame Scheitern der globalen Klimapolitik verfolgt, wird sich schmerzlich an Pigous Forderung nach einer Regelung erinnern, die gezielte Steuern für beispielsweise Umweltschäden vorsieht.

Gemessen an den Diskussionen der jüngsten Zeit scheint sich gerade in den vergangenen Jahren ein Umdenken breitzumachen. Wo aber landen wir nun, wenn die Welt sich weiter in der Say'schen Richtung entwickelt? Der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter sah 1912 eine Selbstzerstörung der Konsumgesellschaft als eine mögliche Entwicklung - mit frappanter Treffsicherheit: Großunternehmen würden kleinere und mittlere Betriebe verdrängen. Unternehmer, bis dahin die Heroen der Gesellschaft (bedingt durch ihren bedingungslosen Einsatz und Wagemut), würden zu "exekutiven Typen", mechanisierten Spezialisten ohne Innovationsgeist. Stützende Schichten des Kapitalismus (Kapitalgeber, Banken) würden dem System die Unterstützung verweigern. Die Familie würden sich in zunehmender Individualisierung auflösen und dadurch ihre Bedeutung als Kitt der Gesellschaft verlieren. Wie er diesen Zustand nennen würde, wird Schumpeter gefragt: "Sozialismus", so seine Antwort, "als die reifste Form des Kapitalismus."

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