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Frankreichs politisches und geistiges Gesicht

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Das Buch des bekannten Wiener Romanisten und Dante-Forschers Robert L. John „Reich und Kirche im Spiegel französischen Denkens. Das Rombild von Cäsar bis Napoleon“ (Verlag Gerold & Co., Wien. 270 Seiten. Preis 155 S) verbirgt hinter einem bescheidenen Titel eine Fülle von geschichtlichen Materialien und Erkenntnissen wie selten ein Werk der sogenannten „Speziallitera-tur“. Hier wird nämlich nicht, wie eben der Titel vermuten lassen könnte, eine jener sattsam bekannten brav-dürren Arbeiten vorgelegt, die am dünnen Faden eines linearen Themas einige Stoffbezüge anlangen und durch den Wechsel der Jahrhunderte „beleuchten“. Johns Werk ist ein wesentlicher Beitrag zur Erhellung der inneren und äußeren Geschichte Europas; es zeigt das Ringen Frankreichs, leiner Dichter, Denker, Politiker und Könige um eine innere Selbstfindung und Prägung auf — in der Auseinandersetzung mit „Rom“, mit der Idee und Wirklichkeit des altrömischen Kaisertums, und mit Rom als Haupt der katholischen Kirche. Adler und Kreuz, legitime Oberherrschaft über die Völker des christlichen Europa, und Vormacht, religiöse und geistige Führerin der Christenheit — das sind die beiden großen Anliegen der fähigsten und dynamischesten Köpfe Frankreichs seit dem Mittelalter bis heute. Hier ergeben sich nun zwei Spannungen, die das Gesicht Europas und des europäischen Katholizismus prägen. Zum einen ist es der innere Kampf mit Deutschland um die Kaiserkrone und die Reichsidee: „die welthistorische, ganz Europa erschütternde Spannung zwischen Deutschland und Frankreich — auf gallischem Boden stets auch innerhalb der schönen Literatur zu verfolgen — erweist sich in ihren Ursprüngen und noch lange nachher als ein gewaltiges Eifersuchtsdrama um die Corona urea imperialis, das in Napoleon nur scheinbar „zur Ruhe kommt“. Frankreichs Dichtung und Literatur erweist sich dabei als engagiert — politisch engagiert, lange schon vor der Resistance unserer letzten Jahrzehnte —, sie ist Vorkämpferin französischer Selbstbehauptung und Selbsterhellung wie keine andere europäische Nationalliteratur in diesem Ausmaße und mit diesen Konsequenzen. Die Absagen und zeitbedingten Ablehnungen der Reichsidee und des Kaisergedankens — im Spätmittelalter, in humanistischen und aufgeklärten Kreisen etwa, im 16. bis 19. Jahrhundert, erweisen sich hierbei jeweils als Stufen neuer Rezeption: es geht immer im letzten darum, daß Frankreich selbst die Kaiserkrone erringen will, die Kaiseridee für sich in Anspruch nehmen möchte. Die Ueberzeugung von der Strahlkraft der französischen Kultur und Geistigkeit als alle Welt verpflichtende Menschheitskultur, seit dem IS. Jahrhundert mit soviel Erfolg propagiert, wurzelt in eben diesem Bemühen, Frankreich als den legitimen Träger altkaiserlicher römischer Weltkultur, Weltpolitik, Weltherrschaft aufzuzeigen. Damit im Zusammenhang steht das Ringen der französischen Kirche, der eglise gallicane, mit „Rom“, mit dem päpstlichen Rom. Die heutigen Auseinandersetzungen um die Elite der französischen Jesuiten, Dominikaner, um die Arbeiterpriester, mit vatikanischen Kreisen — eine der wichtigsten kirchengeschichtlichen Tatsachen unserer Zeit — werden erst verständlich von diesem geschichtlichen Hintergrund her. Die französische Kirche, Trägerin großer weltgeschichtlicher Reformbewegungen, Mutter vieler großer Orden und spiritueller Führer der Christenheit, versucht, nicht nur ihren politischen und kirchenrechtlichen Eigenstand Rom gegenüber zu behaupten, sondern sich immer wieder in Krisenzeiten, als Lehrerin der Christenheit zu begreifen, gemäß dem mittelalterlichen Spruch, Frankreich komme das Magisterium zu — wobei die Tatsache nicht übersehen werden darf, daß die Pariser Universität, an der neben Thomas von Aquin viele Leuchten europäischer Theologie lehrten, tatsächlich durch Jahrhunderte hindurch diese Vormachtstellung eindrucksvoll verkörperte. — Wer also die heutigen politischen, geistigen, kirchlichen und religiösen Auseinandersetzungen in Europa und um Europa verstehen will, tut gut, ihre Hintergründe und Grundlagen in dem zuverlässig und sehr sauber gearbeiteten Werk Robert Johns einzusehen.

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